Experten der Veränderung und massenhaft Bierkästen

Friedenstaube aus Menschen
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Anstöße für gewaltfreie Änderungen - Teil des Schwerpunktthemas auf der EKD-Synodentagung 2019 in Dresden.
Experten der Veränderung und massenhaft Bierkästen
Die Synodentagung 2019 der Evangelischen Kirche in Deutschland eröffnet die Beschäftigung mit ihrem Schwerpunktthema mit einem instruktiven Podiumsabend.

Es ist der 10. November 2019 in Dresden. Und somit DIE Gelegenheit, sich des 9. November 1989 zu erinnern. So beginnt Moderatorin Jaqueline Boysen den Abend, der unter dem Motto steht: "Gewaltfrei(e) Veränderungen schaffen". Mit diesem Abend eröffnet die Synodentagung 2019 der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die Beschäftigung mit ihrem diesjährigen Schwerpunktthema. Das lautet: "Auf  dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens. 'Suche Frieden und jage ihm nach' (Psalm 34,15)." Und dieser Abend also beginnt mit einem Rückblick auf die ja nicht zu Unrecht so genannte "Friedliche Revolution".

Auf dem Podium sitzen der Bischof i. R. Axel Noack, der selbst auf Kirchenleitungsebene am Prozess der Vereinigung von West- und Ostkirche beteiligt war, und der Theologe und frühere Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Stephan Dorgerloh. Der erzählt, dass der Kairos des 9. November 1989 in Wahrheit gut und langwierig vorbereitet war. Man habe in der kirchlichen Arbeit mindestens eine Dekade gebraucht, um Menschen den aufrechten Gang beizubringen, so Dorgerloh. Der Erfolg sei schließlich damit gekommen, dass man "Leute unter sein Dach gelassen" habe, die kirchenrechtlich eigentlich nicht dazugehört hätten. Aber diese Menschen - Umwelt- oder Friedensgruppen beispielsweise - hätten eben das Gleiche gewollt. Und so habe sich eine gemeinsame Kraft entwickelt.

Eine Erfahrung, die Axel Noack nur bestätigen kann. Dazu brauche es auch Offenheit und Mut: "Es ist nicht leicht, wenn plötzlich eine Horde von 100 Punkern in die frisch renovierten Gemeinderäume kommt." Die Lehre, die die Kirche zu ziehen hatte, sei aber gewesen, dass diese Menschen nicht Objekte ihres diakonischen Handelns gewesen seien, sondern gleichsam "Sozialgestalt des Bekennens". Für ihn sei der Aufruf der Ökumenischen Versammlung "Eine Hoffnung lernt gehen" ein solcher Moment gewesen, bei dem es Früchte getragen habe, andere Gruppen unter das Dach der Kirche zu holen. Das sei kein langweiliger Text wie von den Synoden während der Diktatur gewesen, so Noack, sondern Zündstoff – und für die Staats- und Parteiführung glatte "Konterrevolution".

Es fehlt eine Trägerschicht an Akteuren

Trotzdem, so sind sich Dorgerloh und Noack einig, habe es im Prozess der Vereinigung auch der Kirchen in den Folgejahren viele Verluste, viele Brüche in Biografien und einige verpasste Chancen gegeben. Tatsächlich, so Noack, habe man in seiner Kirche sogar mal von einer neuen gemeinsamen Grundordnung geträumt, ähnlich wie im Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten von einer neuen Verfassung. Heute aber fehle nach einer beispiellosen Binnenwanderung von Ost nach West, so formuliert es Dorgerloh, in den Ostkirchen "eine Trägerschicht an Akteuren".

Dabei könne man aber die Erfahrungen der Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten durchaus fruchtbar machen. Zum Beispiel für die Umbrüche, die der Gesellschaft und vor allem den Kirchen bevorstehen, meint Stephan Dorgerloh: Statt die Generation, die mit den Umwälzungen nach 1989 Schwierigkeiten hatte, als "Opfer der Wende" zu bezeichnen, sollte man sie lieber als "Experten für Wandel, für Veränderung" begreifen und diese Expertise auch abrufen.

Bier kaufen gegen Nazis

Marion Prange und Georg Salditt, beide von der Friedensfestinitiative Ostritz, holen die Synodalen dann in die Umbrüche der Gegenwart. Die ehrenamtliche Bürgermeisterin der rund 2500 Einwohner großen sächsischen Kleinstadt und der Mitarbeiter des dortigen Internationalen Begegnungszentrums erzählen, wie sie es geschafft haben, einem großen Schild- und Schwert-Festival (SS-Festival) vor Ort einen gewaltfreien Protest entgegenzusetzen. Als dieses Rechtsrock-Konzert, primär zur Finanzierung und Nachwuchsgewinnung für Neonazi-Aktivitäten gedacht, 2017 erstmals offiziell angemeldet wurde, organisierten die Bürgerinnen und Bürger von Ostritz in einem breiten gesellschaftlichen Bündnis ein Friedensfest und belegten damit die Plätze und Straßen der Stadt, damit sie nicht den Neonazis zur Verfügung standen. In diesem Bündnis waren und sind Kirchen und Parteien, Vereine und Verbände aktiv, aber auch linke Organisationen wie die Antifa. Marion Prange ist stolz darauf, dass klare Regeln zu gewaltfreien Aktionen geführt haben. Immerhin, so erzählt sie, standen sich auf einem Kilometer Luftlinie 1 000 Neonazis, 500 Linke und 3 000 Friedensfestbesucherinnen und –besucher gegenüber.

International berühmt wurden die Ostritzer schließlich mit ihrer Bierkastenaktion: Nachdem den Festivalveranstaltern der Alkoholausschank gerichtlich untersagt wurde, kauften die Bürgerinnen und Bürger der Kleinstadt in einer konzertierten Aktion sämtliche Bierreserven vor Ort auf, um den Neonazis die Versorgung unmöglich zu machen. "Das hat die mächtig geärgert", schmunzelt Prange.

Es gehe aber auch um Nachhaltigkeit und Verstetigung der Aktivitäten, eine längerfristige Gesamtstrategie, ergänzt Georg Salditt. Er sehe darin klar einen Auftrag für Christinnen und Christen: für Frieden und Toleranz in der Gesellschaft zu wirken. So arbeitet die Friedensfestinitiative schon länger intensiv mit anderen Organisationen zusammen, um die Präventions- und Bildungsarbeit in der Region zu stärken. Ein Motto sei dabei: "Mit Unterhaltung Haltung entwickeln", so Prange.

Bei alledem müsse man immer auf dem Boden des Rechts bleiben, mahnt Axel Noack: "Es nützt nichts, den Tiger zu vertreiben, wenn man dabei selbst zum Tiger wird." Dazu zählt für ihn auch gewaltfreie Sprache. Stephan Dorgerloh weist darauf hin, dass Konflikte gerade in sozialen Nahräumen schwierig sind: "Da gehen Risse mitten durch die Gemeinden." Sich trotzdem auseinanderzusetzen, dazu gehöre Mut, meint Noack. Denn man müsse den Menschen sagen, dass es oft keine einfachen Lösungen gibt.

Das ist das Stichwort für Marion Prange: Energisch merkt sie an, dass es kein Recht darauf gibt, fertige Lösungen präsentiert zu bekommen. Vielmehr müssten wir gemeinsam daran arbeiten, dass jeder und jede sich einbringen kann: Bürgerbeteiligungsprozesse anstoßen oder unterstützen und Orientierung bieten. "Jeder kann einen Beitrag leisten." Auch die Experten für Veränderung. Der Applaus der Synodalen bekräftigt den Aufruf der mutigen Ostritzerin an diesem Abend.