"Es geht auch um die Achtung der Toten"

Sachsenhausen
Foto: epd-bild/Gordon Welters
Blick auf den Eingang des ehemaligen Häftlingslagers Sachsenhausen in Oranienburg.
"Es geht auch um die Achtung der Toten"
Es war am 10. Juli dieses Jahres. Teilnehmer einer Gruppe aus dem Bundestagswahlkreis der AfD-Fraktionschefin Alice Weidel am Bodensee sollen bei einem Besuch der Gedenkstätte Sachsenhausen an Gaskammern gezweifelt und KZ-Verbrechen relativiert haben. Organisiert und finanziert vom Bundespresseamt. Erst jetzt wurde das über Medienberichte bekannt und erst jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft Neuruppin: Verdacht auf Volksverhetzung. Ein einmaliger Fall?

Rund 700.000 Menschen besuchen das ehemalige KZ Sachsenhausen Jahr für Jahr. Etwa ein Drittel davon wird in Gruppen durch die Gedenkstätte geführt. Betreut werden sie von Mitarbeitern mit pädagogischer Ausbildung, aber auch von Guides aus dem Tourismusbereich mit spezieller Lizenz. Voraussetzung dafür ist ein gehöriges Fachwissen.

Wer waren die Täter? Was war die NS-Ideologie?

"Die meisten Gäste kommen zum ersten Mal und wollen einen Überblick haben. Wir bieten auch Spezialführungen an. Wer waren die Täter? Was war die NS-Ideologie? Es gab verschiedene Hälftlingsgruppen. Polen, Franzosen. Aus Tschechien wurden vor allem die Eliten verfolgt. Jeder fünfte Häftling war Jude. Wie hat die Bevölkerung in Oranienburg das Lager wahrgenommen? Natürlich bieten wir auch Führungen zum sowjetischen Speziallager ab 1945 an", sagt Martin Schellenberg, Leiter der pädagogischen Abteilung in der Gedenkstätte.

Fachwissen ist das eine. Das andere ist die Vorbereitung auf Fragen. Vielleicht auch irritierende. Etwa ob Hitler nicht auch seine guten Seiten hatte, so als Tierliebhaber und Vegetarier etwa.

"Man muss sich das Gesamtbild ansehen. Wenn ein Großteil der Bevölkerung verfolgt wurde, kann ich nur bedingt behaupten, dass nicht alles schlecht war. Ob Hitler lieber Erdbeeren oder Kirschen gegessen hat, ist da eher irrelevant", ergänzt Schellenberg.

Der Nationalsozialismus hatte Verheißungspotential

Als Bildungsinstitution sei man offen für Dialog. Insofern gingen die Gedenkstätten-Guides davon aus, dass es sich bei Fragen nicht um bewusste Störungen handele. Museums- und Gedenkstättenleiter Axel Drecoll:

"Uns ist daran gelegen, die Zusammenhänge zu erläutern, weil es oft an Kontextwissen fehlt. Der Nationalsozialismus hatte Verheißungspotential für alle, die mitmachen wollten. Er hat zum Beispiel Aufstiegsmöglichkeiten ermöglicht. Dieses Verheißungs-Regime hat aber von Anfang an darauf gezielt, die Welt mit einem Vernichtungskrieg zu überziehen."

Mit den Flüchtlingen kommen auch immer mehr Muslime als Besucher. Auch von ihnen gebe es in der Regel keine Provokationen, sondern sie zeigen Betroffenheit und Entsetzen - wie die allermeisten Gäste, berichten die pädagogischen Mitarbeiter.

Die Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen.

Ganz anders aber eine Gruppe im Juli. Organisiert über das Bundespresseamt kam sie vom Bodensee aus dem Bundestagswahlkreis der AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. Mehrere Teilnehmer aus dieser Gruppe hätten in einer Art kommentiert und gefragt, die den Guides als Muster  bekannt sei. Und zwar von Rechtsradikalen und nationalsozialistischen Geschichtsumdeutern.

"Häufig erlebt man eine Verharmlosung der Verbrechen mit vermeintlich alliierten Verbrechen. Der 'Bomben-Holocaust' auf Dresden ist ein beliebtes Beispiel. Es werden 'chemische Gutachten' zitiert, die die Existenz von Gaskammern in Frage stellen", sagt Leiter Axel Drecoll.

Revisionisten blenden aus und verdrehen

Und ergänzt: "Weil die SS gezielt Aktenmaterial vernichtet hat, müssen wir in teilweise mühsamer Kleinarbeit die Fakten zusammentragen. Die Revisionisten nutzen das gezielt, um den Kontext auszublenden und anhand einzelner Dokumente die Geschichte vollkommen zu verdrehen."

Der Guide habe im Juli 60 Minuten lang versucht, die Führung für die AfD-Gruppe aufrecht zu erhalten. Dann habe er abbrechen müssen. Aus dem Gedächtnisprotokoll des Mitarbeiters:

"Als der Gedenkstättenmitarbeiter auf Nachfrage über die 1943 eingerichtete Gaskammer im KZ Sachsenhausen berichtete, kam aus dem Kreis der Personen, die sich an den Diskussionen beteiligten, wiederum eine Nachfrage: 'Und wie wurde die betrieben? Mit Zyklon B?'  - Auf die Antwort des Guide, dass im KZ Sachsenhausen ein flüssiges Blausäurepräparat verwendet wurde, sagte dieselbe Person: 'Und das glauben Sie?' - Später griff ein Teilnehmer das Thema der Gaskammer wieder auf und sagte: 'Gaskammern hat es im Zweiten Weltkrieg nur in den USA gegeben.'"

Auf schriftliche Nachfrage heißt es aus dem Bundestags-Abgeordnetenbüro von Alice Weidel:

„Weder Frau Dr. Weidel noch einer ihrer Mitarbeiter waren bei dem besagten Termin zugegen. Die Besuchergruppe war lediglich in Begleitung eines Mitarbeiters des Bundespresseamtes und eines Mitarbeiters der Gedenkstätte. Kenntnis von dem mutmaßlichen Vorfall erhielt unser Büro erst durch die mediale Berichterstattung, die teils widersprüchlich ist. Uns ist zudem bis heute kein Wortlaut, kein konkreter Sachverhalt dargelegt worden.

Aus den Medien haben wir dazu erfahren, dass aktuell behördliche Ermittlung stattfinden. Diese sind grundsätzlich begrüßenswert, führen aber auch dazu, dass aus rechtlichen Gründen deren Abschluss abgewartet werden müssen.“

Den Leugnern kein öffentliches Podium bieten

Die Billigung, Leugnung und Verharmlosung des Holocaust wird in Deutschland als Volksverhetzung strafrechtlich verfolgt, ebenso die Beleidigung von Opfern der Shoah. Wieso aber hat die Mahn- und Gedenkstätte bis heute keine Strafanzeige gegen die AfD gestellt?

"Wir selbst wollen Leuten, die ihre revisionistischen und verharmlosenden Thesen verbreiten, kein öffentliches Podium bieten, was sie unseres Erachtens nicht verdient haben", erklärt Leiter Axel Drecoll.

Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft, aber erst, seit Presseberichte über den Vorfall auftauchten. Die Gedenkstätte selbst ist vorgewarnt, wenn sich über das Bundespresseamt wieder AfD-Besuchergruppen anmelden sollten. Denn nicht nur, dass weitere Provokationen aus den Reihen der AfD zu befürchten sind. Es geht auch um die Achtung der Toten, sagt Axel Drecoll:

"Das ehemalige KZ Sachsenhausen ist auch ein eingetragener Friedhof! Das erfordert einen besonderen Umgang, weil die Totenruhe und Würde derjenigen, die dort zum großen Teil auf bestialische Weise umgebracht worden sind, zu wahren ist."