Der kurdische Geissenpeter: Vom Flüchtling zum Ziegenspezialisten

Ali Celik arbeitet als Ziegenhirt im Rahmen des Gaissaprojekts im Schweizer Kanton Graubünden.
Foto: Vera Rüttimann
Ali Celik arbeitet als Ziegenhirt im Rahmen des Gaissaprojekts im Schweizer Kanton Graubünden.
Der kurdische Geissenpeter: Vom Flüchtling zum Ziegenspezialisten
Der Kurde Ali Celik lebt als anerkannter Flüchtling im Schweizer Kanton Graubünden. Dank der ökumenischen Arbeitsgruppe "Agape" hat er in Cazis eine Stelle gefunden – als erster Ziegenhirt im Rahmen des "Gaissaprojekts", betreut von einem deutschen Pfarrer. Ein bemerkenswertes Projekt, bei dem beide Seiten gewinnen.

Mit geübten Handgriffen und Lauten treibt Ali Celik auf einer Wiese oberhalb von Cazis seine Vierbeiner hinunter zum Stall. Für einen Moment blinzelt der Mann mit der tief in die Stirn gezogenen Mütze zufrieden in die Sonne. Manchmal kann der Kurde sein Glück kaum fassen. Seine Heimat in der Osttürkei musste er einst verlassen, weil man ihm mit dem Tode drohte. Aber nun steht Ali Celik auf dieser Alpwiese und dirigiert ein gutes Dutzend Bündner Strahlenziegen in den Stall, die ihm anvertraut wurden. Fürsorglich streicht der gelernte Bauer den Tieren über das Fell. Er weiß: Die Ziegenrasse, deren markante weiße Streifen vom Horngrund bis zur Nase verlaufen, ist vom Aussterben bedroht.

Ali Celik ist das Gesicht des "Gaissa-Projekts", das von kirchlichen Kreisen im Gebiet Heinzenberg-Domleschg initiiert wurde. Getragen wird es von der ökumenischen Arbeitsgruppe "Agape". Ihr Ziel: Aus Flüchtlingen wie Ali Celik sollen Ziegenspezialisten werden, die ihren Lebensunterhalt später selbst bestreiten können.

Der evangelische Pfarrer Jörg Wuttge leitet das Gaissa-Projekt im Schweizer Kanton Graubünden.

Die Fäden zu diesem Projekt laufen bei Jörg Wuttge zusammen, Pfarrer der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Cazis. Sein Büro befindet sich in der Steinkirche, einem in der Gegend bekannten architektonischen Kleinod. Von hier aus lanciert der gebürtige Deutsche, der seit Anfang der neunziger Jahre mit seiner Frau in der Schweiz lebt, seine Projekte. "Ich will randständige Menschen in der Gesellschaft integrieren", beschreibt er sein Ziel.

Die Bewohner von Cazis unterstützen das "Gaissen-Projekt" von Beginn an. Dass dafür überhaupt Gelder gewonnen werden konnte, liegt an der Offenheit der Menschen hier, sagt Jörg Wuttge: "Cazis liegt an alten Transitwegen wie der Via Spluga, Via Mala und Via Franceso. Hier sind über die Jahrhunderte immer Menschen hängen geblieben. Das Thema Heimat-Finden ist hier ständig präsent."

Ein gegenseitiger Lernprozess

Jörg Wuttge ist mit seinem Jeep täglich auf dem steilen Gelände unterwegs. An diesem Morgen besucht er Daniel Lang auf seinem Bauernhof, wo sich auch der Ziegenstall befindet. Als er die große Küche betritt, sitzt Ali Celik am Holztisch im angeregten Gespräch mit dem Ziegenhalter. Daniel Lang kann ihm fast jede Frage beantworten, denn er ist verantwortlich für die fachliche Begleitung des "Gaissa-Projektes". Als Jörg Wuttge erstmals von diesem Projekt erzählte, war Lang begeistert. Der junge Bauer sagt: "Mich interessiert dieses Projekt, weil es gleich mehrere Dinge zusammenbringt: Es werden Brücken zwischen randständigen Menschen und Einheimischen geschlagen. Zudem wird mit der Bündner Strahlengeiss eine alte Ziegenrasse gefördert, die zum Bündner Kulturgut zählt."

Pfarrer Jörg Wuttge, Ali Celik und Dolmetscher Mehmed (von links).

Daniel Lang bringt Ali das Handwerk der modernen Geissenzucht bei. Der 54-Jährige muss noch viel lernen, obwohl er in seinem früheren Leben eine Herde von 400 Tieren betreut hat. Die Tierhaltung, die er gelernt hat, ist mit derjenigen der Schweiz jedoch kaum zu vergleichen. Alis Augen fragen Daniel Lang auch an diesem Vormittag, warum die Ziegen nicht frei herum laufen dürfen. Seine Stirn faltet sich, wenn ein Formular fürs Büro korrekt ausgefüllt werden muss. Solche Ställe wie hier, das Heuen auf Wiesen und Elektrozäune, das kannte er vorher nicht.

Wer die beiden am Tisch beobachtet, erkennt: Sie befinden sich mitten in einem gegenseitigen Lernprozess. Aus der Türkei kennt Ali Celik viele Hausmittel, die in der Schweiz keiner kennt. Daniel Lang wiederum erzählt Ali, wie man Ziegen bei Koliken mit Kaffee Schnaps kuriert. Alle lachen, auch Fikret Özsoy, der mit am Tisch sitzt und bei Fachthemen Alis Worte ins Deutsch übersetzt. In Ali Celik brennt ein großer Ehrgeiz, auch wenn er noch besser Deutsch lernen muss. Wenn seine Ziegenherde groß genug ist, will der Kurde später von deren Milch eigene Käseprodukte herstellen und auf dem Markt verkaufen.

Eine neue Heimat

Ali Celik soll nicht nur dafür sorgen, dass seine Ziegenherde stetig Nachwuchs erhält, er soll sich hier auch heimisch fühlen, das ist ein Ziel der Projektentwickler um Jörg Wuttge. Und es funktioniert. Der Mann mit den dunklen, sanften Augen hat nicht nur eine wunderbare Hand für seine Tiere, er fühlt sich auch in der Freien Evangelischen Kirche in Thusis zu Hause. Regelmäßig besucht er dort mit seiner Frau den Gottesdienst. Auch in der Gemeinde kennt man Ali Celiks Fluchtgeschichte.

Seine Zuhörer staunen, wenn er aus seinem Leben erzählt, denn der neue Ziegenhirt hat die Biographie eines kurdischen Widerstandskämpfers: Anfang der neunziger Jahre unterstützte Ali Celik seinen Sohn, der in den Bergen für die PKK kämpfte. Das brachte ihn, der zuvor in seiner Gemeinde als Automechaniker ein ruhiges Leben führte, in diverse Gefängnisse. Er und seine Familie wurden zusätzlich mit dem Tode bedroht. In Ankara beantragte Celik 1992 Asyl in der Schweiz, 2009 konnte er mit seiner Familie nach etlichen Wirren aus der Türkei in die Schweiz übersiedeln. "Wir entkamen dem Tod", erzählt Ali Celik: "Als wir in Zürich ankamen, hatten wir nichts als unsere Kleider am Leib." Der hagere Mann kann sich gut in die syrischen Flüchtlinge hineinversetzen, die in diesen Tagen in Europas Bahnhöfen stranden.

Ali Celik und Pfarrer Jörg Wuttge bei der Ziegenherde.

Jörg Wuttge packt in seinem Büro in der Steinkirche erneut seine Sachen, weil er Ali im Stall auf dem Heinzenberg besuchen will. Zuvor blättert er noch in einem Buch über Dietrich Bonhoeffer. Der evangelische Theologe, den er sehr verehrt, gibt ihm mit seinen Schriften immer wieder innere Leitlinien für die Praxis mit. Und die nötige Kraft, ambitionierte Pionierwerke wie das "Gaissa-Projekt" durchzuziehen. Jörg Wuttge sagt: "Bonhoeffer schrieb: In der Kirche der Zukunft wird es darum gehen, zu beten und Taten der Gerechtigkeit zu tun. Kirche hat für mich nur Zukunft, wenn sie für andere da ist, und sich nicht nur um sich selbst dreht."