TV-Tipp: "Tatort: Rapunzel"

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15. Juni, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Rapunzel"
Um die geschichtliche Bedeutung des Themas "Haare" geht es in Adrian Illiens Drehbuch zu diesem "Tatort" aus Zürich zwar nur im Hintergrund, aber Haare sind das dominierende Thema des Krimis, der mit "Rapunzel" den passenden Titel trägt.

Männer haben Haare, Frauen Frisuren: So weit das Klischee. Tatsächlich wird das Haupthaar für die männliche Hälfte der Menschheit zumeist erst dann zum Thema, wenn es ausgeht. Die symbolische Bedeutung ist jedoch geschlechterübergreifend: Der biblische Held Simson war unbezwingbar, bis Gattin Delila den Philistern sein Geheimnis verriet; ohne Haare war er ein Mensch wie alle anderen. Vermeintlichen Hexen wurden im Mittelalter die Haare abgeschnitten, um sie ihrer Macht zu berauben. Auch in Adelskreisen galten lange Haare als Zeichen der Stärke, Kahlheit hingegen als Makel.

Vor sechzig Jahren kehrte die männliche Mähne als Zeichen des Protestes zurück; prompt wollten reaktionäre Kreise die sogenannten Gammler scheren und zur Zwangsarbeit verpflichten. In der Gegenwart haben sich iranische Frauen im Rahmen der feministischen  Revolution ihre Haare abgeschnitten; überall auf der Welt setzten Geschlechtsgenossinnen ein ähnliches solidarisches Zeichen. Um all’ das geht es in Adrian Illiens Drehbuch zu diesem "Tatort" aus Zürich zwar nur im Hintergrund, aber Haare sind das dominierende Thema des Krimis, der mit "Rapunzel" den passenden Titel trägt. 

Der Film beginnt als Thriller. Über der Stadt entlädt sich ein Unwetter. Im strömenden Regen eilt eine junge Frau zu einem Club und schmiedet dort mit ihrer Freundin Fluchtpläne. Als sie den Tanzschuppen wieder verlässt, wird sie betäubt, in ein Taxi gezerrt und in einen ehemaligen Bunker oberhalb der Stadt gebracht, wo ihr die langen blonden Haare abgeschnitten werden. Sie kann sich befreien, flieht in den Wald, wird von einem Auto angefahren und schwebt wie beinahe schwerelos in die Tiefe; am nächsten Morgen wird ihre Leiche als groteskes menschliches Kunstwerk in einer Baumkrone entdeckt.

Im Bunker findet sich ihre Handtasche, somit steht ihre Identität umgehend fest: Vanessa, 17, war die Tochter des angesagten Zürcher Coiffeurs Marco Tomasi (Bruno Cathomas). Sein Verhältnis zur Tochter war nicht frei von Spannungen, wie ihre Freundin Lynn (Elsa Langnäse) den Polizistinnen Tessa Ott und Isabelle Grandjean (Carol Schuler, Anna Pieri Zuercher) erzählt: Anstatt sie selbst auszubilden, hat der Vater die junge Frau zu einer Kollegin in die Lehre geschickt. Aurora Schneider (Stephanie Japp) ist aber gar keine Friseurin, sondern macht Perücken für Krebskranke oder Unfallopfer; und damit ist der neunte "Tatort" aus Zürich bei seinem Thema.

Tempo und Intensität lassen nach dem fesselnd gestalteten und dank der Thriller-Musik von Fabian Römer packenden Auftakt allerdings deutlich nach. Richtig spannend wird’s erst wieder zum dramatischen Finale, als Lynn den beiden Ermittlerinnen die Klärung des Falls ankündigt, aber vorher ihrerseits entführt wird; am Ende hängt ihr Leben beinahe buchstäblich am seidenen Faden. Die Bildgestaltung hingegen bleibt gerade dank der guten Lichtarbeit auf hohem Niveau (Kamera: Michael Saxer). Fortan lebt der Krimi jedoch vor allem vom Sujet, denn der Handel mit menschlichem Haupthaar ist ein Milliardengeschäft mit komplizierten Regeln.

Der Begriff "Scheitel" zum Beispiel bezeichnet nicht nur die Trennlinie zwischen den beiden Kopfhaarhälften. Orthodoxe Jüdinnen tragen in der Öffentlichkeit spätestens nach der Hochzeit gern eine "Scheitel" genannte Perücke; der Anblick ihrer Haare ist laut Tora allein dem Ehepartner vorbehalten. Für diese Perücken gibt es jedoch strenge Regeln: Das Haar darf nicht aus Indien stammen, weil es dort mutmaßlich einem anderen Gott geopfert wurde und daher nicht religionskonform ist. In moralischer Hinsicht ist der Handel ebenfalls fragwürdig: "die Haare der Ärmsten für die Köpfe der Reichsten".

Zum Glück haben es Autor Illien und Regisseur Tobias Ineichen klug vermieden, Informationen dieser Art als Kurzvorträge zu integrieren; die für die Krimiebene durchaus wichtigen Wissensbissen werden angenehm beiläufig eingestreut. Die Ermittlungen gelten ohnehin nicht allein dem Mord: Kurz zuvor ist Auroras wertvolle Haarsammlung gestohlen worden. Neben Perücken stellt die Frau an ihrem düsteren Arbeitsplatz auch etwas morbide Kunstwerke aus den Haaren Verstorbener her. Diese Art des Trauerschmucks folgt einem alten Brauch.

Die Haare galten einst als Sitz der Seele, und dieses Detail wird in dem Krimi noch eine ebenso wichtige Rolle spielen wie ein Jahrzehnte zurückliegendes tragisches Ereignis. Nebenbei setzt der Film die Annäherung zwischen Ott und Grandjean fort: Das Verhältnis der beiden grundverschiedenen Frauen erreicht dank der Preisgabe sehr persönlicher Erfahrungen eine neue Ebene.