Warum man das Gesangbuch vorliest

Gesangbuch mit Kopfhörern
Foto: Sarika Feriduni/evangelisch.de
Ein vorgelesenes Gesangbuch kann für blinde und sehbehinderte Menschen eine große Hilfe sein.
Warum man das Gesangbuch vorliest
Ein neues Angebot der Blinden- und Sehbehindertenseelsorge erleichtert Menschen mit Einschränkung die Teilnahme am Gottesdienst.

Ein vorgelesenes Gesangbuch – darüber mag man den Kopf schütteln. Welchen Sinn hat das, wenn ein wesentliches Element – die Melodie – fehlt? Doch der Dachverband der evangelischen Blinden- und Sehbehindertenseelsorge (Debess) hat genau das dieses Jahr auf den Markt gebracht. Die 535 Lieder des Stammteils des Evangelischen Gesangbuchs (EG) werden von einer Sprecherin und einem Sprecher gelesen. Zu hören sind außerdem die Informationen zur Liederkunde, die Biografien der Dichter und Komponisten, das thematische und das alphabetische Inhaltsverzeichnis. Ein umfassendes Angebot, das bei der Ziergruppe, den Blinden und Sehbehinderten, auf Interesse stößt.

 "Wir hatten schon seit Jahren sehr viele Anfragen", berichtet Pfarrerin Barbara Brusius, theologische Referentin bei Debess. Im vergangenen Herbst produzierte der Verband das Gesangbuch schließlich als blindengerechtes Hörbuch. Eine sinnvolle Ergänzung zu den bisherigen Ausgaben, findet Brusius. Denn nicht jeder Sehbehinderte könne etwa die Punktschrift lesen. "Wir haben eine steigende Zahl von Menschen, die erst im Alter erblinden", erläutert Brusius. "Die erlernen nicht unbedingt die Braille-Schrift." Und auch die Großdruck-Ausgabe ist nicht immer geeignet. "Das sind sechs dicke und schwere Bände – in den Gottesdienst kann man die kaum mitnehmen."

Gottesdienst mit Knopf im Ohr

Die deutlich handlichere und erschwingliche Hörbuchausgabe - die CD kostet 12 Euro, außerdem ist ein spezielles Abspielgerät nötig - sei für viele  "die einzige Möglichkeit, das Gesangbuch praktisch zu nutzen", sagt Brusius. Seit es im März auf den Markt kam, habe man bereits über einhundert Exemplare verkauft. "Ich habe seit Jahren auf so ein Angebot gewartet", sagt Ulrike Andreae-Dorok. Die 68-Jährige gehört zu den ersten Nutzern des Hörbuchs und gesteht: "Ich bin total begeistert."

Das "Daisy"-Format, in dem das Hörbuch aufgenommen ist, gestattet es, schnell zu navigieren und etwa einzelne Liedverse gezielt anzusteuern. Auch die Lesegeschwindigkeit kann verändert werden. Diese Flexibilität macht sich Ulrike Andreae-Dorok zunutze. Sie verwendet das Hörbuch nicht nur zum Memorieren der Texte zuhause – so wie es sich die Macher vorgestellt haben – sondern sogar während des Gottesdienstes selbst. "Ich habe mir alles auf ein mobiles Gerät kopiert", erzählt sie. "Ich frage, was gesungen wird und setze mir passende Lesezeichen." Wird ein Lied angestimmt, so lässt sie sich den Text via Kopfhörer zeilenweise vorsprechen. "Ich hab die Geschwindigkeit einfach etwas schneller eingestellt", erzählt sie.

Melodien fehlen noch - der Rechte wegen

An ihrem Wohnort Soest betreut Andreae-Dorok auch eine Gruppe vom Blindendienst. Dort kommt beim Singen dann der große "Daisy"-Player zum Einsatz. "Das läuft ganz wunderbar", sagt Andreae-Dorok, die mit ihrer Begeisterung auch andere ansteckt. "Ich habe schon vier weitere Gesangbücher verkauft oder verschenkt", sagt die Sehbehinderten-Aktivistin.

Dass die Melodien fehlen, stört sie nicht. "Es wäre wünschenswert gewesen, die Melodien dazu zu nehmen", betont dagegen Brusius, räumt aber ein: "Das ist mit den Rechten schwierig und sehr teuer." Bisher ist es lediglich die Digitalausgabe der Deutschen Bibelgesellschaft, die Texte und Melodien auf einer CD-Rom vereinigt. Beim Debess bleibt es ein Zukunftsprojekt.

Almut Böhler gehört seit einem Jahr zum Sprecherteam des Verbandes. Bisher hat die Pfarrerin an der Marburger Uniklinik vor allem theologische Sachtexte eingelesen und sich am sogenannten "Spiegel"-Team beteiligt, das Artikel des Nachrichtenmagazins aktuell für Blinde und Sehbehinderte aufnimmt. "Die Lieder waren eine große Herausforderung für mich", sagt sie. "Denn sie singen sich sehr viel leichter, als sie sich sprechen."

Bei der Aufnahme sei es darum gegangen, einen Kompromiss zu finden. "Man muss so betonen, dass sich der Sinn des Textes beim Hören erschließt und gleichzeitig der Rhythmus und Duktus der Melodie nicht ganz verloren geht." Besonders relevant wird dies etwa bei Zeilensprüngen oder wenn sich gar mehrere Strophen zu einer Sinneinheit verbinden – etwa beim Lied "Wir danken dir Herr Jesu Christ" (EG 79). "Je vertrauter und näher mir eine Melodie ist, desto schwerer ist es mir gefallen, Distanz zu halten", berichtet Böhler.

Besonders die langen und schwierigen Passionslieder hätten ihr einiges abverlangt, sagt die Theologin. "Wenn die Melodie fehlt, kommt das Sperrige erst richtig durch." Eine Mühe, die sich für Böhler persönlich aber gelohnt hat: "Man lernt vieles kennen, was im Verborgenen blüht." Das gilt für unbekannte, kaum gesungene Lieder – aber auch für scheinbar Bekanntes: Man führe sich etwa einmal alle neun Strophen von "Ich steh' an deiner Krippen hier" oder ein anderes der Paul Gerhardt-Lieder zu Gemüte, die im Gottesdienst wohl kaum je komplett gesungen werden. "Die Textinhalte fallen beim Singen ja oft ein bisschen hinten runter – beim Sprechen werden sie wieder bewusst", so Böhler. "Man merkt auch, wo die Texte nicht mehr unserer Zeit entsprechen. So habe ich das Gesangbuch einmal in seiner ganzen Vielfalt erlebt."