"Gott hat es nicht gut mit uns gemeint"

Helfer schleppen Lebensmittel von Pritschenwagen
Foto: Hoffnungszeichen e.V.
Melanie Hastreiter und die anderen Helfer in Nepal haben alle Hände voll zu tun
"Gott hat es nicht gut mit uns gemeint"
Eine Woche nach dem Erdbeben ist die Hilfe in Nepal ein Kampf gegen die Zeit und das Wetter.

Auf dem Durbar-Platz in der alten nepalesischen Königsstadt Bhaktapur campieren unter Plastikplanen Hunderte Überlebende des Erdbebens der Stärke 7,8 vom 25. April. Aus Angst vor Nachbeben trauen sie sich nicht nach Hause. Frauen in bunten Saris kochen auf offenem Feuer in großen, silbernen Töpfen Mahlzeiten für ihre Familien. Die Backsteine für den improvisierten Herd und das Holz für das Feuer stammen aus den Überresten der umliegenden Häuser. Ganze Straßenzüge in Bhaktapur liegen in Trümmern. Der Boden, die Kleidung der Menschen, die wenigen Habseligkeiten, die sie aus ihren zerstörten Häusern retten konnten, sind noch feucht vom Regen der letzten Tage. Sauberes Wasser, ausreichend Nahrungsmittel, Hygieneartikel, Medikamente - und Hoffnung - sind Mangelware.

"Für 600 Menschen gibt es nur fünf Toiletten", berichtet Melanie Hastreiter telefonisch aus Nepal. Die Mitarbeiterin der deutschen Menschenrechts- und Hilfsorganisation "Hoffnungszeichen" ist sehr berührt von dem Elend der Menschen und den Zerstörungen in der 81.000-Einwohner-Stadt Bhaktapur, 16 Kilometer östlich der Millionenmetropole Kathmandu. "Es ist nicht leicht, durch das Lager zu gehen und die Geschichten der Menschen zu hören", gesteht Hastreiter, für die Nepal ihr erster Katastropheneinsatz ist. Die nüchternen Zahlen – über 6.250 Tote, mindestens 14.500 Verletzte, Hunderttausende beschädigte oder zerstörte Gebäude, acht Millionen Betroffene – geben nur einen vagen Eindruck des menschlichen Leids nach dem verheerenden Erdbeben.

Zusammen mit ihrer Kollegin Hanna Fuhrmann und Mitarbeitern nepalesischer Partnerorganisationen verteilt Hastreiter am Durbar Platz in Bhaktapur Reis, Linsen, Nudeln, Öl und Medikamente an die Menschen. Die Lebensmittel wurden aus Indien beschafft, die Medikamente aus Bangladesch. In den Erdbebengebieten von Nepal sind die meisten Geschäfte noch geschlossen. Viele der indischen Besitzer sind aus Angst vor weiteren Beben nach Indien geflohen. Nepalesische Ladeninhaber kümmern sich um ihr eigenes Überleben und das der Familie, sorgen sich um ihre Angehörigen in den Bergdörfern. Über die Lage in den Dörfern in unmittelbarer Nähe des Epizentrums des Bebens gibt es kaum Informationen. Die Telefonverbindungen sind unterbrochen, viele Straßen sind durch Trümmer und Erdrutsche auch eine Woche nach dem Beben noch unpassierbar.

Unzählige Menschen vor allem in entlegenen Gebieten harren unversorgt im Freien aus. "Malteser International Deutschland" konzentriert seine Hilfe auf diese ländlichen Regionen. In den Distrikten Kavre und Sunduplanchok, rund 40 Kilometer und eineinhalb Stunden Fahrzeit von Kathmandu entfernt, werden sie in den nächsten Tagen Grundnahrungsmittel an 1.600 besonders bedürftige Familien - fast 10.000 Menschen - verteilen.

"Wir haben das Gefühl, nicht schnell genug zu sein"

"Jede Familie erhält 20 Kilogramm Reis, fünf Kilogramm Linsen, ein Kilogramm Salz und einen Liter Öl. Das sichert das Überleben für die nächsten zehn Tage", erläutert Marie Theres Benner, die die Arbeit der Malteser vor Ort koordiniert, per Skypechat aus Kathmandu. Benner ist eine sehr erfahrene Notfallhelferin. Aber auch sie ist geschockt über das Ausmaß der Not in Nepal. "Das ist meine schwierigste Mission bis dato, neben dem Tsunami 2004. Durch die geographischen Gegebenheiten hier und durch den schlechten Zugang zu den Betroffenen fühlt man sich hilflos. Wir kämpfen gegen die Zeit, arbeiten mit Hochdruck und haben dennoch das Gefühl, nicht schnell genug zu sein", seufzt Benner.

Die Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkünften hat für die Malteser zunächst Priorität. "Das beugt auch gleichzeitig Krankheiten vor", sagt Benner, fügt dann jedoch hinzu: "Zusätzlich werden wir medizinisches Gerät einfliegen, da die Krankenhäuser zu wenig Material und Equipment haben, um die Menschen chirurgisch zu versorgen." 90 Prozent der Gesundheitseinrichtungen in den ländlichen Gebieten sind nach Angaben der Vereinten Nationen zerstört oder beschädigt. Die Krankenhäuser in Kathmandu und den Distrikthauptstädten sind überfüllt. Es fehlt an Medikamenten, Verbandsmaterial und Personal.

Kinder in einem Camp in Kathmandu

Die Malteser und Hoffnungszeichen sind am Ende der ersten Woche nach dem Beben in Nepal zwei der derzeit 94 internationalen Nothilfeteams aus 22 Ländern. Sie leisten erste humanitäre und medizinische Hilfe, machen sich ein Bild von der genauen Lage vor Ort und den Bedürfnissen der Menschen zur Planung der konkreten Hilfe für die kommenden Wochen - sowie den Jahre dauernden Wiederaufbau Nepals.

Die Vereinten Nationen haben zusammen mit Partnern wie der EU die internationale Gemeinschaft um Finanzierung der Nepalhilfe gebeten. Alleine für die humanitäre Soforthilfe der kommenden drei Monate werden 415 Millionen Dollar benötigt. "Die vor uns liegende Herausforderung ist enorm", sagt Christos Stylianides. Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz macht sich derzeit in Nepal selbst ein Bild von der Situation.

Das Wetter arbeitet gegen die Helfer

Eine der großen Herausforderungen ist das Wetter. Bis zum vergangenen Donnerstag behinderten Regen und Hagel die Hilfseinsätze. Zudem es ist für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl. Die Feuchtigkeit und die Temperaturen sind eine zusätzliche Gefahr für die Gesundheit der vielen hunderttausend Menschen, die unter freiem Himmel campieren. Seit Freitag scheint zwar die Sonne, aber für Mitte nächste Woche ist schon wieder Regen gemeldet. "Zurzeit kommt ungewöhnlicher Regen aus Kaschmir und bringt dazu kühle Luft. Dies ist völlig unnormal. Eigentlich ist es in dieser Jahreszeit heiß und trocken", weiß die Asienkennerin Benner.

Anfang Juni beginnt zudem der Monsun und bringt Wolkenbrüche und Überschwemmungen in den weitgehend von Subsistenzwirtschaft geprägten Agrarstaat. Nepals Landwirtschaft beschäftigt mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen und trägt mehr als ein Drittel zum Bruttoinlandsprodukt bei. Wenn bis zum Beginn des Monsun die Reisfelder nicht bestellt sind, wird sich nach Befürchtungen der Welternährungsorganisation FAO die schon jetzt schlechte Versorgungslage mit Lebensmitteln noch verschärfen. Schon vor dem Beben gehörten zudem die Unterernährungsraten in manchen Regionen Nepals zu den höchsten der Welt. Ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 730 US-Dollar (2013) ist Nepal das zweitärmste Land Südasiens und zählt  zu den 20 ärmsten Ländern der Welt.

Ein anderer wichtiger Wirtschaftssektor mit einem großen Wachstumspotential ist der florierende Tourismus, von dem 1,1 Millionen oder sieben Prozent der Nepalesen direkt oder indirekt leben. Gefragt sind vor allem Trekkingtouren im Himalaya. Ein bedeutender Devisenbringer ist auch der Religionstourismus zu den großen hinduistischen Heiligtümern Nepals und nach Lumbini, dem Geburtsort von Buddha. Eine große Attraktion waren auch die historischen Tempel und Paläste der alten Königsstädte Kathmandu, Lalitpur und Bhaktapur. Viele dieser zum Weltkulturerbe der UNESCO gehörenden historischen Bauwerke sind aber seit dem Erdbeben nur noch ein Haufen Staub und Schutt und damit wohl auch die Prognose der Welttourismusorganisation, der Anteil des Tourismus am Bruttoinlandsprodukt werde bis 2024 von jetzt vier auf fünf Prozent steigen.

Auf dem Durbar-Platz in Bhaktapur haben die Menschen Angst – Angst vor Nachbeben, vor Krankheiten, um ihre Zukunft. Mit trauriger Stimme berichtet Melanie Hastreiter, was eine Frau auf dem Durbar-Platz zu ihr sagte: "Gott hat es nicht gut mit uns gemeint."