Elisabeth Schmitz' Denkschrift gegen Judenverfolgung

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Elisabeth Schmitz' Denkschrift gegen Judenverfolgung
Zum Jahrestag des Stauffenberg-Attentats auf Reichskanzler Adolf Hitler am 20. Juli 1944 erinnern wir in einer Serie an Widerstandskämpfer, die im evangelischen Glauben verwurzelt waren. Klarer als Elisabeth Schmitz konnte man es damals kaum sagen: "Man nimmt durch grausame Gesetze den Menschen die Erwerbsmöglichkeit, man zieht die Schlinge langsam immer enger zu, um sie allmählich zu ersticken, man weiß, sie werden verelenden, und schützt sich beizeiten davor, die Opfer dieser Grausamkeit dann vielleicht unterstützen zu müssen."

Im September 1935 versucht Elisabeth Schmitz mit ihrer Denkschrift, die Synode der Bekennenden Kirche Preußens - also die nazikritische Opposition in der Kirche - zu einem beherzten öffentlichen Einspruch gegen antijüdische Hetze in der Presse, gegen Berufsverbote und Boykotte zu bewegen. Die Studienrätin für Deutsch, Geschichte und Religion an einem Berliner Mädchengymnasium hat einen großen Freundeskreis, darunter viele Juden.

Sie kennt ihre schreckliche Lage. "Wie soll man antworten auf all die verzweifelten, bitteren Fragen und Anklagen: Warum tut die Kirche nichts? Warum lässt sie das namenlose Unrecht geschehen?", fragt Schmitz in ihrer Schrift, die sie 200-fach vervielfältigt hat und nun der Synode vorlegt und an Pfarrer und andere Kirchenmitglieder verschickt.

Schmitz beschreibt nicht nur das Elend der Ausgrenzung. Sechs Jahre, bevor Juden aus dem Reich systematisch deportiert werden, scheint sie bereits zu ahnen, welche Katastrophe den Juden in Deutschland droht - wenn zu wenige Menschen gegensteuern. Und tatsächlich waren nur Einzelne dazu bereit. Die Leitung der Steglitzer Bekenntnissynode vom 23. bis 26. September 1935 entschloss sich jedenfalls, nicht über die Diskriminierung der Juden im öffentlichen Leben zu debattieren. Nicht einmal dies mochte man noch sagen. Die Denkschrift von Elisabeth Schmitz kam im Kirchenparlament gar nicht erst zur Sprache.

Vielen Synodalen fehlte es an Mut

Evangelische Pfarrer und katholische Priester waren öffentlich als "Judenknechte" stigmatisiert worden, wenn sie die nationalsozialistische "Rasse"-Ideologie ablehnten, Juden getauft hatten oder sich schützend vor Christen mit jüdischen Vorfahren stellten. Eine Karikatur im Naziblatt "Der Stürmer" vom Sommer 1935 zeigt Pfarrer, die vor einem thronenden Juden niederknien. Die Synode bangte um die Existenz der Kirche. Schmitz protestierte: "Wenn die Kirche um ihrer völligen Zerstörung willen in vielen Fällen nichts tun kann", fragt sie in ihrer Schrift, "warum weiß sie dann nicht wenigstens um ihre Schuld? Warum betet sie nicht für die, die dies unverschuldete Leid und die Verfolgung trifft?"

Doch in der Bekennenden Kirche fehlte es eben auch an der nötigen Sensibilität. Die Gestapo berichtete intern sogar, führende Männer der Bekennenden Kirche hätten "die Stellung des Staates zur Judenfrage grundsätzlich" bejaht. Selbst der sonst so kritische Theologieprofessor Karl Barth, der sich als ihr führender Kopf gegen die nationalsozialistische "Rassen"-Politik stellte, distanzierte sich noch im Wintersemester 1936/37 von einem liberalen Menschenbild, das Juden als Menschen wie andere auch versteht. In einer Vorlesung erläuterte er sein "Befremden" gegenüber Juden und Menschen jüdischer Abstammung. Barth tat dies ohne Not. Damals lehrte er bereits in der sicheren Schweiz, in Basel.

Unrecht mit alle Schärfe benannt

Umso mehr sticht Elisabeth Schmitz in dieser dunklen Phase der Geschichte hervor. In einem Nachtrag zur Denkschrift vom Mai 1936 benennt die fromme, bibelfeste Protestantin das Unrecht mit aller Schärfe: "In der Osterbotschaft der Vorläufigen Leitung (der Bekennenden Kirche) heißt es: 'Weil uns Christus vor dem Vater vertritt, können wir es nicht leiden, wenn die Ehre des Wehrlosen in den Staub getreten wird.' Hier aber geht es längst schon nicht mehr um die Ehre. Es geht um die Existenz von Hunderttausenden, es geht um das nackte Leben. Und es geht um die Haltung der Christen, der Gemeinde, der Kirche. Es geht um die Schuld des Volkes und um die Sünde der Kirche."

Elisabeth Schmitz, geboren 1893, wuchs in einer evangelischen Lehrerfamilie in Hanau auf. Ihr Vater, ein Oberlehrer am Gymnasium, förderte ihre akademische Laufbahn. 1920 wurde sie als Historikerin promoviert, studiert dann aber weiter Theologie. Erst 1929 trat sie eine Stelle als Studienrätin an der Luisenschule in Berlin an. Deren sozialdemokratische Schulleiterin wird 1933 entlassen. Weil Schmitz dem neuen Direktor zu aufsässig war, musste auch sie 1935 das Lyzeum verlassen. Sie wechselte an eine andere Schule.

Sie dokumentierte Menschenrechtsverstöße gegen Juden

Dabei war Elisabeth Schmitz alles andere als extrovertiert. "Leise auftretend, persönlich zurückgenommen, konzentriert auf den Unterrichtsstoff, sachlich und anspruchsvoll in ihren Anforderungen", so erinnert sich eine ehemalige Schülerin, "grauer Faltenrock und hochgeschlossene Bluse, meist mit einem 'Seelenwärmer', einer wollenen Weste, darüber; das Haar in der Mitte gescheitelt und mit einem Kamm hinten hochgesteckt. Alles ein wenig altertümlich und nicht dazu angetan, uns spontan für ihre Person zu begeistern."

Was ihre Schülerinnen nicht wussten: Elisabeth Schmitz riskierte viel für ihre Überzeugungen. Sie dokumentierte Menschenrechtsverstöße gegen Juden und forderte in zornigen Briefen prominente Christen auf, eindeutig Stellung zu beziehen. Zum Beispiel schrieb sie an Karl Barth schon im Februar 1934: Wenn die Kirche ihren Ansprüchen gerecht werden wolle, müsse sie sofort in Verbindung zur Synagoge treten und sich sofort um die Menschen in den Konzentrationslagern kümmern.

Ein Blockwart verpfiff sie

Und sie beherbergte eine "nichtarische" Freundin, die Ärztin Martha Kassel, die im April 1933 ihre Praxis verloren hatte. Ein Blockwart verpfiff sie wegen "Zusammenlebens mit einer Jüdin", fast wäre sie aus dem Schuldienst entlassen worden. Doch der Schulbehörde gelang es, das Verfahren niederzuschlagen.

Elisabeth Schmitz schrieb ungezählte Briefe. Nach der Reichspogromnacht im November 1938, als Angehörige von SA und SS ungehindert Tausende Synagogen, Geschäfte und Privathäuser verwüstet hatten, bedrängte sie ihren Dahlemer Pfarrer Helmut Gollwitzer, eine Bußtagspredigt gegen das schreiende Unrecht zu halten. "Es ist einfach ganz unmöglich, dass ein Volk oder vielmehr die Kirche eines Volkes, in dem diese Dinge geschehen sind, einen Landesbuß- und -bettag feiert, und von dem allen soll keine Rede sein." Sie forderte ein Zeichen der Menschlichkeit auch an die Verfolgten.

Dieser Brief erreichte Gollwitzer vermutlich noch am 15. November, vielleicht hat er seine Haltung im Gottesdienst des darauffolgenden Bußtags sogar beeinflusst. "Wer soll denn heute noch Buße predigen? Ist uns nicht allen der Mund gestopft an diesem Tage?", formulierte Gollwitzer. Er verlas den Bibelvers: "Tue deinen Mund auf für die Stummen, und für die Sache derer, die verlassen sind" (Sprüche 31,8), und forderte: "Gott will Taten sehen." Nach dem Krieg erinnerte sich Gollwitzer: "In der Totenstille der erschütterten Gemeinde fielen damals die gemäß der altpreußischen Bußtagsliturgie verlesenen Zehn Gebote wirklich wie Hammerschläge" - nur Elisabeth Schmitz, die ihn gleich nach dem Novemberpogrom besucht hatte und ihm eindringlich zugeredet hatte, erwähnte Gollwitzer nach dem Krieg in seinen Rückblicken nicht.

Sie wollte nicht länger Beamtin eines tyrannischen Staates sein

Weil sie nicht länger für den Staat, den sie als tyrannisch erlebte, arbeiten wollte, quittierte sie zum 31. Dezember 1938 den Dienst als Lehrerin. Da war sie 45 Jahre alt. Kurz zuvor hatte sie ihre Freundin Martha Kassel zur Abfahrt in die Emigration begleitet. Schmitz schrieb mit der ihr eigenen Sachlichkeit an die Schulbehörde: "Es ist mir in steigendem Maße zweifelhaft geworden, ob ich den Unterricht bei meinen rein weltanschaulichen Fächern - Religion, Geschichte, Deutsch - so geben kann, wie ihn der nationalsozialistische Staat von mir erwartet." Sie begnügte sich lieber mit einer niedrigen Pension.

Schon am 6. Dezember 1938 hatte Schmitz ein Wochenendhaus mit Grundstück in Wandlitzsee zum Preis von 7000 Mark erworben. Sechs Tage später wanderten die früheren Besitzer, der "nichtarische" Arzt Max Seefeld und seine Frau, nach Argentinien aus. Wenn sie dort später Verfolgte versteckte, achtete sie penibel darauf, dass jeder das Grundstück pflegte. "Wahrscheinlich wollte sie es den Seefelds später in einem ordentlichen Zustand zurückgeben", vermutet Schmitz' Biograf Manfred Gailus.

Taufunterricht für Juden

"Pusto", so nannte sie das Wochenendhäuschen, das heute noch auf einem Privatgrundstück steht - ziemlich verfallen (die heutigen Besitzer wollen es bald abreißen). Auf Deutsch heißt "pou sto" "hier stehe ich" - eine Anspielung auf einen Satz des griechischen Philosophen Archimedes: "Gib mir einen Punkt, wo ich sicher stehen kann, einen Hebel, der lang genug ist, und ich beweg dir die Erde mit einer Hand." Schmitz suchte keinen Ruhepunkt für sich. Sie brauchte das Haus, um Illegale am Stadtrand vor der Deportation zu verstecken. Auch ihre Wohnung in der Luisenstraße in Berlin-Mitte nutzte sie dazu.

Auf Bitten eines Friedenauer Pfarrers begann sie nun in ihrer freien Zeit, Juden, die in die Kirche aufgenommen werden wollten, Taufunterricht zu geben. Schmitz musste dafür in die als "Judenwohnung" gekennzeichneten Wohnungen gehen. Das Risiko, dafür in Schutzhaft genommen zu werden, konnte sie davon nicht abhalten.

Erst 2004 entdeckte man, wie mutig sie gewesen war

Im Zuge der allgemeinen Evakuierungen aus Berlin zog Schmitz 1943 in ihr Elternhaus in Hanau. Als ihre Berliner Wohnung in der Luisenstraße bei einem Bombenangriff zerstört und das Wochenendhäuschen in Wandlitzsee für kriegsbedingt Obdachlose beschlagnahmt wurde, kehrte sie nicht mehr zurück. Nach dem Krieg nahm sie den Schuldienst in ihrer Heimatstadt Hanau bis zu ihrer Pensionierung 1958 wieder auf.

Zu ihrer Beerdigung im Jahr 1977 kamen sieben Gäste. Kaum jemand wusste, was diese Frau unter der Nazidiktatur in Berlin an Widerstand geleistet hatte. Sie selbst klärte nie auf, dass in Wirklichkeit sie die anonyme Denkschrift "Zur Lage der deutschen Nichtarier" vom September 1935 geschrieben hatte. 2004 fand man in einem Hanauer Kirchenkeller eine Aktentasche mit dem Vermerk "Nachlass Dr. Elisabeth Schmitz". Da erst wurde deutlich, wie mutig sie in Wirklichkeit gewesen war.

Burkhard Weitz ist Redakteur bei chrismon. Sein Artikel über Elisabeth Schmitz ist in längerer Version in der chrismon-Reihe "Vorbilder" erschienen.