Fernsehen

Fernsehen
Warum es sich manchmal lohnt, den Blick vom Bildschirm zu heben...

Als ich klein war, da konnten wir im Sommer kein Fernsehen schauen. Weil unser Haus umgeben war von riesigen Platanen, die in den Sommermonaten verlässlich Blätter trugen und diese sanft, aber sorgfältig um unsere Satellitenschüssel legten. Das Ergebnis auf dem Bildschirm: ein schwarz-weißes Flimmern. Störgeräusche. Ein Rauschen. Wie ein Schneesturm mitten im Sommer. Natürlich fanden wir das als Kinder ziemlich nervig und witterten anfangs auch ein Erziehungskomplott unserer Eltern. Da hätten wir mal endlich sechs Sommerferienwochen lang Zeit zum Fernsehen gehabt und dann sowas.  Alle Jahre wieder war das so. Doch in der Rückschau kann ich sagen: Ferngesehen, das haben wir auch in den Sommermonaten eigentlich immer. Manchmal bei Freundinnen und Freunden. Ein bisschen heimlich. Viel öfter aber durch selbstgebastelte Ferngläser aus Klopapierrollen und durch riesige Kartons, in die wir eine große Luke hineinschnitten. Sie ließen uns weitersehen, als es unsere eigene Wirklichkeit eigentlich erlaubt hätte. Wir erfanden Geschichten zu dem, was wir sahen. Jeder Moment ein neues Bild.

Seit ein paar Monaten teile ich mir mit zwei Kolleginnen ein Büro. Unsere Schreibtische stehen hinter der großen Schaufensterscheibe eines ehemaligen Ladenlokals. Wir arbeiten hier, schreiben Texte, Artikel und Mails, telefonieren und trinken Kaffee. Aber immer, wenn die Worte nicht fließen wollen, unsere Gedanken abschweifen, wir nach einer guten Idee suchen, dann heben wir den Blick von unseren Bildschirmen und sehen dennoch fern. Unser Blick reicht weit. So wie früher. Denn vor unserer Schaufensterscheibe spielen sich die besten Geschichten ab. Sie erzählen vom Leben. Jeder Moment ein neues Bild.

Der Paketbote kommt täglich. Sein großer Lieferwagen parkt in der Einfahrt gegenüber. Häufig ist er der Grund für krimiähnliche Konflikte. Lieferwagen trifft auf Auto, trifft auf Fahrrad, trifft auf Fußgänger und es knallt. Zumindest verbal.

In der nächsten Einstellung tanzen die Füße einer jungen Frau auf dem Asphalt. Mit Kopfhörern auf den Ohren schwebt sie weltvergessen umher. Wir können nur erahnen, was der Soundtrack ihres  Weges ist. Für uns bleibt sie ein Stummfilm. Aber einer, der gute Laune macht.

In der darauffolgenden Szene pustet ein Kind aus einem Lastenrad heraus Seifenblasen. Sie schweben sekundenlang vorm Fenster. Wie eine in die Luft gepustete Erinnerung. Ein Kinderfilm, der uns lächeln lässt.

Freitags kommt die Müllabfuhr. Während einer der Müllmänner mit lautem Gepolter die schweren Tonnen auflädt, grüßt ein anderer unsere Nachbarin, die mit ihrer orangenen Gießkanne den sommerdurstigen Bäumen Wasser gibt. Vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Gegen Mittag taucht Rudi auf, der Obdachlosenzeitungsverkäufer aus dem Kiez. Mit jedem hält er gern ein Pläuschchen, weiß über alles Bescheid, was in der Nachbarschaft geschieht. Oft klingelt er im Vorbeigehen an der Klingel meines Fahrrads, das vor dem Schaufenster parkt. Wir winken ihm zu. Und er winkt zurück. Es ist eben ein besonderer Fern-seher, unser Schaufenster.

Eine Weile sehen wir zu, was sich da vor unseren Augen abspielt. So lange, bis die Worte wieder fließen, ein Gedanke zu einem nächsten führt oder das Mailprogramm den Eingang einer neuen Nachricht verkündet. Dann kehren wir zurück in unsere ganz eigene Wirklichkeit. In den Film, in dem wir selbst die Hauptrolle spielen.

Und manchmal frage ich mich dann, wer wohl der Regisseur ist. Von diesem Lieblingsfilm namens „Leben“.

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