Worte zum Weitergehen

Worte zum Weitergehen
Der November schenkt uns Erinnerungen: An den Tod. Und immer auch ans Leben.

Manchmal würde ich den Brief, den ich Oma damals ins Grab hinunterwarf, gerne noch einmal lesen. Ich würde gerne lesen, was ich damals, als Achtjährige dachte. Welche Worte gab ich meiner Oma mit auf den Weg? Dieser Oma, mit der ich doch gar nicht so viel Leben verbracht und die mir doch so viel Leben vermacht hatte. Oma Hanna. Ihr Name, ein kleines Erbe. Ich würde gerne wissen, welche Worte ich wählte: Schrieb ich ihr so, als wäre ich sicher, wir würden uns schon am nächsten Sonntag zu Kaffee und Kuchen in der Gartenlaube treffen? Oder war mir bewusst, dass wir uns nicht so schnell wiedersehen würden? Schrieb ich von Trauer oder Angst? Oder erzählte ich einfach, was mich gerade so beschäftigte – außer ihrem Tod. Von einem Streit mit meiner kleinen Schwester um die schönsten Playmobilfiguren. Von meiner ersten Verliebtheit in den Jungen aus meiner Klasse. Von dem Pferd der Freundin, das dreimal so groß war, wie ich selbst und das mir nicht nur deshalb sehr imponierte. Oder lieh ich mir Erwachsenen-Worte? Aufgeschnappt beim Besuch der Bestatterin oder bei den Beileidsbekundungen der Bekannten. Wünschte ich meiner Oma, dass sie in Frieden ruhen möge? Oder schrieb ich ihr etwas von meiner „tiefen Betroffenheit“? Ich würde gerne wissen, wie meine Vorstellung vom Tod damals aussah. Schrieb ich eine Brücke zwischen der kleinen Hanna auf der Erde und der großen Hanna im Himmel? Stellte ich mir meine Oma wie einen Engel auf einer Wolke sitzend vor? Oder erfand ich ganz eigene Bilder?

Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich weinte, furchtbar weinte, als ich den Brief an meine Oma, verpackt in einen Umschlag mit einem kleinen Schäfchen auf einer grünen Wiese darauf, in das geöffnete Grab warf. Er blieb auf dem Sarg liegen, inmitten von weißen Rosen und Friedhofserde. Ich weiß noch, wie ich mir an diesem Tag Blasen lief, in den neuen Schuhen, die ich extra für die Beerdigung bekommen hatte und wie ich später mit meinen Cousins beim Leichenschmaus verstecken spielte und von einer Großtante ein Fläschchen 4711 geschenkt bekam. Nur eine halbe Stunde, nachdem meine tote Oma unter die Erde gelassen worden war, ging mein Leben schon weiter.

Und vielleicht ist es darum doch nicht so wichtig, zu wissen, was in dem Brief stand, den ich damals schrieb. Weil da andere Erinnerungen sind, die so viel mehr vom Leben, als vom Tod erzählen und von denen ich vielleicht gerade deswegen etwas lernen kann. An diesen Tagen im November, in denen es dunkel ist und wir uns erinnern an die Vergänglichkeit des Lebens – zu Allerheiligen, Allerseelen, am Buß- und Bettag und am Totensonntag. Die Erinnerungen an damals lehren mich: Der Tod war nicht das Ende – damals nicht und heute auch nicht.

Ich kann mich nicht an die Worte erinnern, die ich damals schrieb, aber ich weiß noch, dass ich welche schrieb. An die Oma, die den gleichen Namen trug wie ich. Und der Gedanke ist tröstend, dass die Worte mit ihr zu Staub wurden. Und dass sie es möglicherweise doch noch irgendwo gibt: Die Oma und die Worte, die vielleicht nicht so viel vom Weggehen erzählen, sondern vom Weitergehen.

 

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