Der Ort, von dem aus ich arbeite und an dem ich diesen Text hier schreibe, ist das Literaturhaus St. Jakobi in Hildesheim.
Eine 500 Jahre alte Kirche mit gotischen Fenstern, einem wuchtigen Altar und sogar noch einer Orgel. Wir haben keine Bänke mehr, dafür Stühle, Sitzsäcke, ein Sofa. Wir haben keine sichtbare Kanzel, dafür eine Bühne und eine Bar. Und: Wir haben ein Bühnenbild.
Jedes Jahr im Sommer baut mein Kollege David Schnitter mit anderen zusammen ein Neues - passend zu dem Spielzeitthema, das uns ein Jahr lang begleitet. Diesmal ist es: Schlafen.
Seit ein paar Wochen besteht das Bühnenbild deshalb aus: schlafenden Walen. Pottwalen, um genau zu sein. Aufrecht schweben sie im Ozean aus blauer Folie - dem gleichen Material, aus dem der erste Ozean war, den David als Kind sah: der nämlich, über den Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auf der kalfaterten Emma reisten - damals, in der Augsburger Puppenkiste.
Nur dass unser Bühnenbild-Ozean viel größer ist. Eine zwölf Meter hohe blaue Kathedrale von der Decke bis zum Boden, durch die Licht fällt. Und darin die Wale - riesig und doch nur halb so groß wie in Wirklichkeit.
Um zum Altar zu kommen, muss man bei uns jetzt zwischen den blauen Bahnen hindurch gehen und steht dann wie mitten im Wasser. Ganz hinten schwebt dort auch ein Kreuz. Und ein Babywal weit oben. Pottwale schlafen nämlich in Gruppen - senkrecht im Wasser. Die Jungen ganz oben. Sie werden von den älteren immer wieder zur Wasseroberfläche geschubst, um regelmäßig zu atmen.
Ich kann mich nicht satt sehen an unseren Walen, am Blau, am Licht - und an der Stille, die sie umgibt. Diese so riesigen und so verwundbaren Geschöpfe. In einem friedlichen, wehrlosen Schlaf.
Ich denke an Jona und „The Belly of the Whale“ - der Walbauch. In der Kreativitätsforschung ist „The Belly of the Whale“ die Phase, in der Ungeordnetes sich neu anordnet, in der etwas entsteht, von dem wir noch nichts wissen und das dann plötzlich da ist. „The Belly of the Whale“ ist der mühelose Flow - aber auch der Ort des inneren und äußeren Kampfes, an dessen Ende die*der Held*in als eine andere ausgespuckt wird als die, die sie zuvor war: Auf den alten Bildern ist Jona nackt und bartlos, jünger und verwundbarer nach der Zeit im Wal. Und bereit, dorthin zu gehen, wo es weh tut. Weil er es will.
In den letzten Tagen war ein junges Kunst- und Performance-Festival bei uns und den Walen zu Gast. Es gab Frühstück, Yoga, Lesungen. Und viel Liebe für unseren Ort. Das Motto des Festivals: Making Space.
Making Space - für Wale, Gedanken, Verwandlungen, Ausdrücke, Eindrücke Making Space - für Verwundbarkeit, Stille, Schönheit, Wut und Tränen.
Making Space - für andere und anderes, mutig im Belly of the Whale, mit dem Risiko: Ich könnte eine andere werden als zuvor.
Vielleicht ist es das, wofür ich leben und arbeiten möchte. Woran ich glaube. Vielleicht heißt das in der Sprache meiner Tradition: Schöpfung. Auferstehung. Neue Welt.
Wochenaufgabe:
Alles über Wale lesen. Darüber Schlafen nicht vergessen!