Was können wir von den Held:innen von Sarajevo lernen?

Die ehemalige christliche Kirche in Sarajevo ist heute eine Kunstakademie.
Christian Höller
Die ehemalige evangelische Kirche in Sarajevo ist heute eine Kunstakademie.
Blog kreuz & queer
Was können wir von den Held:innen von Sarajevo lernen?
evangelisch.de-Blogger Christian Höller berichtet aus Sarajevo - die Stadt wird das Jerusalem Europas genannt. Es gibt Moscheen, Synagogen und christliche Kirchen. Hinzu kommt eine kleine queere Community. Beeindruckt ist Höller von der Resilienz und Widerstandskraft der Bewohner:innen.

Liebe Leser:innen dieses Blogs,

ich schreibe heute aus Sarajevo - eine Stadt, deren Bewohner:innen mich durch ihre Resilienz und Widerstandskraft beeindrucken. Normalerweise kommen wenig Besucher:innen aus Deutschland in die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Dabei hat diese überraschend viel zu bieten - aus religiöser, kultureller geschichtlicher, psychotherapeutischer und queerer Sicht. Sarajevo gilt als multikonfessionell und wird auch Klein-Jerusalem oder das Jerusalem Europas genannt. Denn in der Altstadt befinden sich im Umkreis von einem Kilometer mehrere Moscheen, Synagogen, die katholische Kathedrale, zwei serbisch-orthodoxe Kirchen und eine ehemalige evangelische Kirche.

Die 1898 im römisch-byzantinischen Stil errichtete evangelische Kirche gehört bis heute zu den beeindruckenden Bauwerken von Sarajevo. Viele evangelische Christ:innen kamen nach der Besetzung von Bosnien-Herzegowina durch das österreichisch-ungarische Kaiserreich in die Stadt. Nach dem Ende der Monarchie zogen sie wieder weg. Damit war die Kirche dem Verfall preisgegeben. Später wurde der Gebäudekomplex von den Behörden übernommen und restauriert. Heute befindet sich dort die Kunstakademie. In der früheren Kirche ist derzeit eine Fotoausstellung über den Genozid in Srebrenica zu sehen. Beim Massaker von Srebrenica wurden vor 30 Jahren mehr als 8.000 männliche Muslime von serbischen Truppen ermordet. Insgesamt starben beim Krieg in Bosnien (1992 bis 1995) rund 100.000 Menschen. Die Kämpfe haben nicht nur nur bei den Überlebenden, sondern auch bei den nachfolgenden Generationen tiefe Wunden und Traumata hinterlassen.

Noch immer sichtbare Spuren des Krieges

Besonders schlimm war auch die Belagerung von Sarajevo durch serbische Truppen. Sie war mit 1.425 Tagen die längste Belagerung im 20. Jahrhundert. Schätzungsweise 11.000 Menschen wurden dabei getötet, darunter befanden sich 1.600 Kinder. Hinzu kamen rund 56.000 Menschen, die - zum Teil schwer - verletzt wurden. Traurige Berühmtheit erlangte die "Sniper Alley" (Allee von Heckenschützen), bei der serbische Heckenschützen gezielt auf Passant:innen schossen. Sarajevo wurde wieder aufgebaut. Doch die Spuren des Krieges sind bis heute sichtbar. An Häusern sind Einschusslöcher zu sehen.

Kriegsschäden gehören zum Alltagsbild in Sarajevo.

Als Psychotherapeut interessiert mich, wie die Menschen das Grauen des Krieges ausgehalten haben - den ständigen Beschuss, die Angst um die Familien und Freund:innen, den Mangel an Nahrungsmittel, Wasser und Strom. Ich habe darüber mit Menschen aus Bosnien-Herzegowina gesprochen. Über das unfassbare Leid ist viel geschrieben worden. Ich möchte in diesem Blog den Fokus auf die Widerstandskraft und Resilienz legen. Die Bewohner:innen von Sarajevo sind für mich Held:innen. Um die Versorgung während der Belagerung aufrecht zu erhalten, gruben sie einen geheimen Tunnel. Damit konnten lebensnotwendige Güter in die Stadt gebracht werden.

Theater in Schutzräumen

Um sich psychisch zu stärken, entwickelten die Menschen kreatives Potenzial. Ein Beispiel dafür ist das Sarajevski Ratni Teatar (abgekürzt: SARTR, Sarajevoer Kriegstheater). Während der Belagerung gab es über 2.000 Aufführungen in verschiedenen Schutzräumen und Kellern. Nicht selten musste im Kerzenlicht gespielt werden. Die Schauspieler:innen besuchten auch Krankenhäuser, damit die Verletzten für kurze Zeit den Schrecken des Krieges vergessen konnten. Die Behörden haben erkannt, wie wichtig die Aufführungen für die Menschen sind. Daher haben sie das Theater offiziell als bedeutende Einrichtung zur Verteidigung der Stadt anerkannt. Die Schauspieler:innen erzählen, dass die Aufführungen für sie eine therapeutische Wirkung hatten. Das Theater gibt es heute noch. Auch das philharmonische Orchester Sarajevos lud während des Krieges zu Konzerten ein, um den Menschen Hoffnung zu geben.  

Autor Christian Höller im Sarajevo-Tunnel, der während der Belagerung errichtet wurde.

Ein anderes Beispiel ist das Filmfestival, das derzeit wieder in Sarajevo stattfindet. Vom 15. bis 22. August 2025 steht die gesamte Stadt im Zeichen des Festivals. Auch in diesem Jahr werden 100.000 Besucher:innen erwartet. Gegründet wurde das Festival im Krieg. Damals haben sich Künstler:innen überlegt, wie sie die eingeschlossenen Bewohner:innen psychisch stärken können.

Trotz der Kämpfe kamen 15.000 Menschen zu den zahlreichen Aufführungen. Gezeigt wurden 37 Filme aus 15 Ländern. Die Organisation war alles andere als einfach. Denn die Filmrollen mussten durch den geheimen und feuchten Tunnel in die Stadt gebracht werden. Die Menschen setzten sich dafür ein, dass das Festival nach dem Krieg fortgeführt wird. Den Veranstalter:innen ist es ein Anliegen, möglichst vielfältige Filme zu zeigen, um damit den Dialog und den Austausch zu fördern. Daher kommen Menschen aus ganz Europa nach Sarajevo. Es ist das größte und wichtigste Filmfestival in Südosteuropa. Auch queere Filme aus der Region sind zu sehen wie in diesem Jahr "Fantasy", bei dem es um drei Tomboys und eine Transfrau geht. Tomboys sind Frauen und Mädchen, die sich nicht an die von der Gesellschaft vorgegebenen Geschlechterrollen halten.

Queere Menschen lassen sich nicht unterkriegen  

Abschließend möchte ich ein wenig über die queere Community in Sarajevo erzählen. Diese ist klein. Queeres Leben spielt sich oft im Verborgenen ab. Homosexualität ist in Bosnien-Herzegowina zwar nicht verboten. Aber die gesellschaftliche Akzeptanz ist gering. Es gibt viele Vorurteile und Diskriminierung. Nicht wenige queere Menschen sind nach Westeuropa ausgewandert. Trotzdem wird seit 2019 in Sarajevo jedes Jahr eine Regenbogenparade veranstaltet. Dafür ist viel Mut erforderlich. Die Veranstalter:innen erhielten Morddrohungen. In den vergangenen Jahren gab es Gegenproteste von rechtsextremen, nationalistischen und religiösen Gruppierungen. Daher ist zum Schutz der Parade eine starke Polizeipräsenz notwendig. Die queeren Menschen betonen, dass sie sich nicht unterkriegen lassen. Auch sie zeigen damit Resilienz und Widerstandskraft. 
 

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