Unsichtbare Vielfalt?

Unsichtbare Vielfalt?
Cover der Broschüre "Weil ich so bin wie ich bin. Vielfalt in der Pflege" der Schwulenberatung Berlin
Leitfaden "Vielfalt in der Pflege" - Schwulenberatung Berlin / Montage: RH
Alter bedeutet für viele Lesben und Schwule nicht nur, in der eigenen Community ausgegrenzt zu werden. Viele fürchten auch, in Pflegeheimen ihre Identität und ihren Lebensweg wieder verheimlichen zu müssen. Über ein Bauprojekt und einen neuen Leitfaden für Pflegende.

Ende September erfolgte symbolisch der erste Spatenstich für einen weiteren Lebensort Vielfalt in Trägerschaft der Schwulenberatung Berlin. Unweit des S-Bahnhofs Südkreuz im Bezirk Tempelhof soll bis Ende 2022 ein Gebäude entstehen, das neben Räumen für die Schwulenberatung 69 Wohnungen mit 1-4 Zimmern, eine Pflege-Wohngemeinschaft mit 8 Plätzen, eine therapeutische Wohngemeinschaft mit 10 Plätzen sowie eine Kindertagesstätte für 45 Kinder umfasst. Ein generationenübergreifendes, interkulturelles Wohnprojekt soll es werden, ein "lebendiger Ort für die queere Community in unserer Stadt, der", wie der Regierende Bürgermeister Michael Müller twitterte, "perfekt" zu Berlin passe. Weit mehr als 400 Leute, so verkündet die Schwulenberatung auf ihrer Internetseite, stünden bereits auf der Warteliste. Es scheint also großen Bedarf an solchen Orten zu geben (im Bezirk Charlottenburg existiert bereits ein solcher Lebensort Vielfalt). Und die Vielzahl hämischer Kommentare auf die Twitter-Meldung macht deutlich, dass solch ein Ort noch immer keine Selbstverständlichkeit ist.

Nicht ganz so öffentlichkeitswirksam, aber in seiner Bedeutung vielleicht weitaus wichtiger, ist ein Leitfaden, der von der Schwulenberatung kurz vor dem ersten Spatenstich des Lebensorts Vielfalt am Südkreuz veröffentlicht wurde: "Weil ich so bin, wie ich bin. Inklusion sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in der Pflege. Ein Praxisleitfaden für stationäre und ambulante Dienste." Als PDF zum Herunterladen, soll auf knapp 60 Seiten über "Strategien zur Einführung, Umsetzung und Aufrechterhaltung LSBTI*- diversitätssensibler Pflege" informiert werden. Letztlich geht es darum, auf die speziellen Biografien und Lebensumstände. Lebenswege von Homo-, Bi-, Transsexuellen aufmerksam zu machen, so dass Pflegende in Pflegeeinrichtungen sowie in ambulanten Diensten den spezifischen Bedarf von Pflegebedürftigen wahrnehmen können. Dabei sollte gesagt werden, dass das Stereotyp, Sexualität und Geschlecht würden in der Pflege keine Rolle spielen, ja keineswegs nur LGBT-Personen betrifft. Jedoch definieren LGBT ihre Identität, ihr Leben zwangsläufig stärker über diese beiden Kategorien. Die "klassischen" Familienstrukturen waren und sind Lesben und Schwulen verwehrt. Im Leitfaden heißt es:

"Vor allem ältere Angehörige der sogenannten LSBTI*-Communities - Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter* - schämen sich bis heute dafür, anders gelebt zu haben bzw. anders gelebt haben zu müssen. Häufig wurden sie für dieses Anderssein bestraft  und verachtet, in der Vergangenheit freilich noch mehr als heute. Sie haben gelernt sich anzupassen und nicht aufzufallen. In Pflegeeinrichtungen sind sie meistens unsichtbar.
Es gibt aber diese unsichtbare Vielfalt in jeder Einrichtung, unter den Gepflegten wie beim Personal. Und es ist ein Gewinn für jede Einrichtung, diese Vielfalt zu entdecken, wahrzunehmen und von ihr zu lernen."

Pflegeheime - überhaupt die Frage, wie im Alter leben - sind für älter werdende Homosexuelle ein heikles und gemiedenes Thema. Ich nehme mich da nicht aus: Die Vorstellung, eines Tages nicht mehr ganz so selbstbestimmt auf Hilfe anderer angewiesen zu sein, ist unangenehm. Ebenso wie die Vorstellung, eines Tages die hart erkämpfte Identität quasi an der Tür zum Pflegeheim wieder abgeben zu müssen.

Gegen Scham und Ängste, überhaupt gegen die ganze Verdruckstheit hinsichtlich des Älterwerdens (jenseits der Idylle, die uns die Konsumindustrie anbietet) anzugehen, scheint mir eine der wichtigsten Aufgaben der LGBT-Community! Vor allem in einer breitenwirksamen Kampagne, die sich allgemein an Pflegeheime und -dienste wendet. Aber das Thema Altwerden kann nur im Verbund mit anderen gesellschaftlichen Gruppen wie Gewerkschaften, Gesundheitsdiensten und religiösen, spirituellen Institutionen, sprich: auch die Kirchen, gelingen.

Es ist ein kleiner, aber vielsagender Hinweis, wenn die Schwulenberatung in der Meldung, dass 69 Wohneinheiten geschaffen würden, hinzufügt, dass davon 33 gefördert würden, sprich: geringe Mieten haben würden. Pflege im Alter - die muss man sich eben auch leisten können. Nur ein kleiner Teil wird zu den Privilegierten gehören, die in einem solchen Lebensort ihren Lebensabend verbringen können.

Leuchtturm-Projekte wie der Lebensort Vielfalt sind wichtig, sie sind aber nicht die Lösung für die Mehrheit der queeren Menschen. Ebenso wichtig ist es, ein Verständnis in unserer Gesellschaft zu schaffen, dass LGBT überall Orte brauchen ("Ort" kann übrigens auch ein verständnisvolles Gespräch, eine aufmerksame Geste bedeuten), die frei sind von der Angst, unserer Identität (wieder) aufgeben, verschweigen zu müssen.

Queeres Leben endet nicht mit 50. Daran erinnern der neu entstehende Lebensort Vielfalt und die Broschüre der Schwulenberatung Berlin. Von der Kirche und in diesem Zusammenhang auch speziell von kirchlichen Pflegeheimen und Pflegediensten müssen wir einen solch ganzheitlichen Blick auf das Leben als solches wie auf unseren Lebensweg im Speziellen erwarten dürfen. (Und ich bin sicher, dass viele in der Pflege Arbeitende ihr Bestes tun, um die Pflegebedürftigen in einem umfassenden Blick wahrzunehmen und zu akzeptieren.)

"Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet“ - eine schöne Verheißung (Jesaja 46). Es könnte nicht schaden, wenn die Kirche deutlich und vernehmbar dazu stehen würde, dass auch ältere und alte Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans-Personen willkommen und akzeptiert sind, dass ein christlicher Blick allumfassend ist und niemand jemals einen Teil seines Lebens (wieder) verleugnen muss.

weitere Blogs

Illustration blauer Stuhl
Dieses Jahr blieben beim Pessach-Seder viele Stühle leer.
Coole neue Gottesdienstformen finden viel Aufmerksamkeit – oder geschieht das nur um der Aufmerksamkeit willen?
Eine Ordensschwester im Kongo wurde wieder freigelassen – weil der Bandenchef keinen Ärger wollte.