Die Bibel lesen mit den Augen anderer

Die Bibel lesen mit den Augen anderer
Buch zur internationalen und interkulturellen Hermeneutik Die Bibel lesen mit den Augen anderer.
© Kerstin Söderblom
Bloggerin Kerstin Söderblom hat das Buch zur internationalen und interkulturellen Hermeneutik "Die Bibel lesen mit den Augen anderer." gelesen und rezensiert.
Im November 2019 ist ein interessantes Buch zur internationalen und interkulturellen Hermeneutik herausgekommen. Ich habe es gelesen und rezensiert.

Das Projekt hinter dem Buch: Menschen aus zweihundertfünfzig Gruppen aus zwanzig Ländern, fünf Kontinenten und fünfundzwanzig Sprachen haben sich in mehreren Projektphasen über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren geschrieben, getroffen und ausgetauscht, um biblische Geschichten miteinander zu lesen und Erfahrungen und Gedanken aus dem jeweiligen Alltag in Verbindung mit biblischen Texten zu teilen. Es gab darunter auch einen Austausch unter Studierenden von vier Theologischen Seminaren in Atlanta/USA, Gwangju/Südkorea, Akropong/Ghana und Reutlingen/Deutschland.

Das Buch wurde von Gabriele Mayer und Berhard Dinkelaker herausgegeben. Beide arbeiten bei der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS), die ihren Sitz in Stuttgart hat. Das Buch wurde zeitgleich in Englisch und in Deutsch beim Verlag Esuberanza in den Niederlanden veröffentlicht.

Jeweils zwei Partnergruppen haben mit Unterstützung von Regionalkoordinator*innen biblische Texte aus einem extra veröffentlichten Arbeitsheft der EMS ausgesucht und jeweils in ihrer Muttersprache bearbeitet. Daraus wurden Gruppenberichte und Einsichten in Englischer Sprache verfasst und der anderen Partnergruppe zugeschickt, die ebenso vorging. So entwickelte sich ein lebendiger schriftlicher Austausch. Bei den meisten führten diese Bibelleseprojekte dazu, biblische Texte auch aus anderen Perspektiven wahrzunehmen und den eigenen Verstehens-Horizont zu erweitern. Die neuen Einsichten und Erkenntnisse wurden auf fünf internationalen Bibel-Workshops vertieft.

Fragen der internationalen und interkulturellen Hermeneutik, also der Auslegung der biblischen Schriften, standen im Mittelpunkt der Veröffentlichung. Dafür wurden vier internationale Projektteams eingerichtet. Es gab Regionalkoordinator*innen und Gastgeber*innen vor Ort, die die verschiedenen Bibelworkshops organisiert, geplant und mit allen Beteiligten umgesetzt haben.

Das wichtigste war dabei, dass die Beteiligten gleichberechtigt ihre verschiedenen Perspektiven einbringen konnten. Ihre Lebenserfahrung, ihr kultureller Hintergrund und ihr religiöses Umfeld wurden sichtbar und erfahrbar in der Art und Weise, wie sie biblische Texte verstanden und auf ihr eigenes Leben bezogen. Indem sich die Beteiligten gegenseitig zuhörten, ihre Assoziationen und Gedanken austauschten, bibelwissenschaftliche Impulse zu den biblischen Texten aufnahmen und bearbeiteten, konnten sie sich gegenseitig beim Verstehen der biblischen Texte begleiten, unterstützen und ganz verschiedene Lesebrillen aufsetzen.

Ziel war es nicht, einen Kompromiss zu finden und einer Meinung zu sein im Hinblick auf das Verständnis der biblischen Texte, sondern von den anderen ihre Sichtweise auf die Texte zu hören, sich darauf einzulassen und dadurch mit den Augen anderer sehen und verstehen zu lernen, auch wenn es nicht der eigenen Meinung entsprach.

Die bibelwissenschaftlichen Einführungen zu den ausgesuchten Bibeltexten, die im Buch veröffentlicht wurden, kamen aus Kamerun, Indonesien, Hong Kong, Ghana und Deutschland. Darüber hinaus sind im Buch Ausschnitte aus Predigten und Besinnungen aus Indien, Südkorea, Südafrika, Indonesien und Deutschland abgedruckt.

Dieses internationale und interkulturelle Bibelleseprojekt ist ein zutiefst kontextuell gebundenes Projekt, deren Leistung es ist, dass die Beteiligten ihre vielfältigen Hintergründe, Lebenszusammenhänge und Überzeugungen trotz Sprachbarrieren ausdrücken konnten und von den anderen respektiert und ernst genommen wurden. Diese Formen der kontextuellen Arbeit, der bibelwissenschaftlichen Einführungen und des Erfahrungsbezogenen Bibelteilens sind auch für queere Bibel-Relektüren znetral. Denn nur so können die Alltagserfahrungen Lebenskontexte von queeren Menschen mit biblischen Texten in Beziehung gesetzt und dadurch die Auslegung erweitert bzw. verändert werden.

Im Januar 2020 habe ich Gabriele Mayer zu der Veröffentlichung befragt:

Söderblom:  Inwiefern ist das Buch für queere Bibelleser*innen hilfreich?

Mayer: „Queere Bibelleser*innen bringen ihre Erfahrungen und Alltagsleben ein - und wünschen sich, dass ein ehrliches und offenes Gespräch über verschiedener Verstehensweisen pluraler Lebenswelten möglich ist. Dieses Buch stellt die Frage nach kontextuellen Zugängen zur Bibellektüre in einem internationalen und interkulturellen Erfahrungsraum. Es stellt gleichzeitig ein erfolgreiches Bibelleseprojekt vor: dass und wie unterschiedliche Perspektiven über einen längeren Zeitraum miteinander ins Gespräch gebracht werden können - und Veränderungen geschehen können.“

Söderblom: Welche Lehren können queere Christ*innen/Bibelleser*innen aus dem Buch ziehen?

Mayer: „Der Projektprozess zeigt, dass unterschiedliche Perspektiven und Begegnungen sich sehr gut ergänzen, ja einander brauchen. Siehe auch die Andacht von Martin Franke S.95 (zum Thema Transsexualität, K.S.). Man muss nicht einer Meinung sein, um gut miteinander arbeiten zu können. Man muss sich aber miteinander auf den Weg machen und einander zuhören. Sonst klappt es nicht.“

Söderblom: Hast du einen Rat für queere Christ*innen, die sich mit abwertenden wörtlichen Bibelzitaten konfrontiert sehen?

Mayer: „Damit setzt sich das Buch leider nicht im Detail auseinander. Es lädt vielmehr konsequent ein, eine Vielfalt von Perspektiven als Bereicherung zu erleben; und keine wörtlichen Bibelzitate ohne Kontextbenennung zu akzeptieren. Wenn Bibelteilen, wie in diesem partizipatorischen Prozess in der Runde (und weniger von der Kanzel) stattfindet - und die eigene ‚Erdung‘ und Erfahrung zu Wort kommen, können neue und andere Lernprozesse in Gang gesetzt werden.“

Zum Schluss des Buchs setzte sich Mayer mit möglichen Schritten in die Zukunft auseinander. Sie schreibt, dass es weiterhin wichtig sei, in interkulturellen Kontexten als wechselseitig Lernende unterwegs zu sein. Konflikthafte Themen sollten dabei angesprochen werden, ohne dass man sich einigen müsse. Die Vielfalt der verschiedenen Auslegungskontexte und Meinungen sollte ernst genommen und gehört werden. Dadurch lernten sich die Beteiligten besser kennen und verstehen, auch wenn sie nicht einer Meinung sind. Innerchristlich sei vor allem der Umgang mit dem Thema Sexualität und Geschlecht strittig. Mayer schreibt dazu:

„Ein besonderer Themenschwerpunkt der kontextuellen theologischen Reflexion lag auf Themen wie (…) Sexualität und Geschlecht als ethische Herausforderung. Es erreichten uns zum Beispiel Stimmen von Kirchen, die damit begonnen haben, eine neue kirchliche Arbeit mit Transgender-Personen aufzubauen oder gleichgeschlechtliche Ehen zu segnen. Andere Stimmen haben die Unmöglichkeit zum Ausdruck gebracht, solche Themen zuhause im Herkunftsland anzusprechen.
Am Ende stellten wir fest wie wichtig und sinnvoll diese Gespräche über kontroverse Themen waren
Sexualität und geschlechtsspezifische Diskriminierung bilden einen Kernbereich, den ich zukünftig gerne weiterverfolgen möchte‘, so ein Teilnehmer aus Indien.
Daraus ergibt sich die Frage:
‚Wie kann ich meiner Gesellschaft die Bedeutung der Idee der Gleichheit in allen Bereichen der Schöpfung Gottes bewusst machen, unabhängig von sexueller Orientierung und sozialer Schicht?‘
Eine Stimme aus Westafrika stellte bei sich fest:
Ich habe gelernt verschiedenen sexuelle Orientierung als Geschenk Gottes zu erkennen.‘“ (136 f.)

Das Buch lohnt sich für alle, die offen sind für interkulturelle Bibelarbeiten im Kontext pluraler Lebenswelten. Queere Perspektiven sind ein Teil davon!

 

Zum Weiterlesen:

Mayer, Gabriele/Dinkelaker, Bernhard (Hg. im Namen der Evangelischen Mission in Solidarität, EMS) Die Bibel Lesen Mit Den Augen Anderer, Verlag Esuberanza/Niederlande 2019.

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