Kreuz und queer über den Friedhof

Kreuz und queer über den Friedhof
Foto: Rainer Hörmann
„Kreuz & Queer“ ist nicht nur der Name dieses Blogs auf evangelisch.de. Eine Führung über den Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg trägt denselben Titel. Ein Anlass nachzufragen, was es damit auf sich hat.

Eingang zum Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof im Berliner Bezirk Schöneberg
Als Ludger Wekenborg unlängst einen Taxifahrer bat, ihn zum Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof zu fahren, fragte dieser nach: „Zum schwulen Friedhof?“ Nein, ein schwuler Friedhof ist das unter Gartendenkmalschutz stehende Areal im Bezirk Schöneberg nicht. Rund 60 Grabstätten sind „Ehrengräber“ prominenter Persönlichkeiten wie etwa der Mediziner Rudolf Virchow, der Unternehmer Bolle oder die Gebrüder Grimm. Der 1856 geweihte Kirchhof beherbergt eine der größten Sammlungen freistehender Skulpturen und herausragende Grabarchitekturen des 19. und 20. Jahrhunderts. Seit 2001 befindet er sich in Trägerschaft der Evangelischen Zwölf-Apostel-Kirchengemeinde. Längst sind auch nicht-konfessionelle Bestattungen erlaubt. Es ist ein Kirchhof, auf dem, so betont der an Architektur und Kunst interessierte Ludger Wekenborg, auch Schwule, Lesben und Transgender ihre Ruhestätte gefunden haben.

Ein Spruch der Dichterin Sappho ziert eine künftige Grabstelle
Seit neun Jahren gibt es immer am 17. 5. eine spezielle Führung über den Kirchhof unter dem Titel „Kreuz & Queer“. Die Zahlen verweisen auf den § 175, aufgrund dessen bis zum Ende des letzten Jahrhunderts homosexuelles Leben in Deutschland verfolgt und kriminalisiert wurde. Seit einigen Jahren ist der 17. Mai auch der Internationale Tag gegen Homo- und Transphobie, weil an diesem Tag 1990 die Weltgesundheitsorganisation beschloss, „Homosexualität“ nicht länger als Krankheit zu definieren. Die Führung gestaltet Ludger Wekenborg zusammen mit Wolfgang Schindler. Sie sind ehrenamtliche Mitglieder im Verein EFEU e.V. , der sich der Erhaltung und Pflege des Friedhofs widmet.

 

Im Rahmen der Führung „Kreuz & Queer“ erfährt man viel über das Leben von Schwulen und Lesben, erhält Einblicke über gelebtes Leben in und trotz widriger Zeiten - knapp 90 Grabstellen finden sich auf dem Gelände. Hier liegen der Kneipenwirt und die Frauenrechtlerin ebenso wie der Kulturschaffende und der Aids-Aktivist begraben.

Ein Grabstein in Form eines aufgeschlagenen Buches erinnert an den Historiker Hans-Georg Stümke, der nicht nur als einer der ersten die Geschichte des Nazi-Terrors gegen Homosexuelle aufarbeitete, sondern unter dem Pseudonym Elvira Klöppelschuh mit „Elvira auf Gran Canaria“ auch die komischen Seiten schwulen (Reise-)Lebens schildern konnte. Ganz in der Nähe, etwas unscheinbar unter einem Baum verborgen, erinnert ein Grabstein an die 1994 verstorbene Hilde Radusch, antifaschistische Widerstandskämpferin und lesbische Aktivistin. Ein opulentes Grabmal ist das von Polittunte Ovo Maltine, die 1998 viel beachtet für den Bundestag kandidierte. Eine schlichte, aber edle Grabplatte trägt den Namen des dandyhaften Kunstmäzen und Diplomaten Harry Graf Kessler. Ganz anders die wie ein buntes Plakat gestaltete Tafel für Andreas Meyer-Hanno, der im Dezember 2000, sechs Jahre vor seinem Tod, für sein schwulenpolitisches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden war.

Grabstein "Mit falschem Körper"
Ein Grabstein berührt, weil er unter dem Namen „Kirstin“ und dem Todesdatum der Verstorbenen den Zusatz enthält „Mit falschem Körper“. Die genaue Lebensgeschichte bleibt im Dunkeln. Die Gedenktafel eines anderen Grabes lässt den Namen eines Mannes lesen, darunter hat der noch lebende Partner bereits seinen Namen eintragen lassen - im Wissen, dass sie hier eines Tages wieder vereint sein werden.

Grab des Sängers Rio Reiser
Immer mehr Besucherinnen und Besucher erkundigen sich nach dem Grab Rio Reisers. Bekannt ist der 1996 im Alter von 46 Jahren verstorbene Sänger durch die Band Ton, Steine, Scherben und seinen Solo-Hit „König von Deutschland“. Der Leichnam des schwulen Sängers war zuerst in Fresenhagen bestattet, wurde aber 2011 umgebettet. „Rio Reiser hat den Gebrüder Grimm mittlerweile den Rang abgelaufen“, kommentiert Ludger Wekenborg schmunzelnd.

"Denk mal positHIV" (derzeit im Umbau)
Ebenfalls weit über Berlin hinaus bekannt und viel besucht ist die Gemeinschaftsgrabstätte Denk mal positHIV für die an Aids Verstorbenen. Entstanden im Kontext der Ökumenischen Aids-Initiative Kirche positHIV ist auf einer Marmortafel ein Wort aus dem Lukas-Evangelium zu lesen: „Jesus Christus spricht: Freut Euch aber, dass Eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind.“ Derzeit wird die Erweiterung der Grabanlage fertiggestellt. In einem Wettbewerb wurde dafür der Entwurf des Künstlers Jörn Ebner ausgewählt.

Immer öfter übernehmen Menschen Patenschaften für historische Grabanlagen. Im Gegenzug für die Pflege einer alten Grabstätte oder die Übernahme der Kosten der Restaurierung erhalten sie ein Nutzungsrecht. Diese Idee ist auch dem Umstand geschuldet, dass der Gemeinde das Geld zum Erhalt der historischen Anlagen fehlt. Der Kirchhof finanziert sich ausschließlich über Einnahmen aus Bestattungen und Grabnutzungsgebühren. Doch die Zahl der Beerdigungen sinkt. Die Patenschaften sind ein Weg, Historisches zu sichern. „Die Hälfte der Gräber in Patenschaft sind von Schwulen und/oder Lesben übernommen worden“, so Ludger Wekenborg. „Es gibt hier ein Interesse an einem ‚schönen‘ Grab.“ Eine Führung über den Friedhof wird so auch ein Streifzug durch eine sich allgemein verändernde Gedenkkultur.

Man kann über die auf dem Kirchhof bestatteten Schwulen und Lesben in einer im Café finovo am Eingang des Kirchhofs ausliegenden Mappe nachlesen. Aber erst, wenn Ludger Wekenborg und Wolfgang Schindler die vielen persönlichen Geschichten erzählen, wird homosexuelle Geschichte als Ganzes wirklich lebendig. Es lohnt, sich kreuz & queer über den Kirchhof führen zu lassen.

Infos: Weiteres zum Verein, dessen Arbeit und künftige Veranstaltungen auf der Internetseite von Efeu e.V. / Über die Geschichte des Kirchhofs informiert die Internetseite der Zwölf Apostel Gemeinde.

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