Zunehmend unscharfe Grenzen

Zunehmend unscharfe Grenzen

Googeln Sie noch mal, solange es Google noch gibt, und was Google-Chefs sonst so sagen. Sind Über- und Durchblick überhaupt gefragt? Außerdem: die krasseste Trendumkehr im Medienbewertungsverhalten mindestens des Jahrzehnts.

In diesem oder jenem Sinne merkwürdige Reden zur Lage der Medien, goldene Zukunft des Fernsehens (wenn man es nicht mehr als linear begreift), das sind die Themen des Tages.

Eine bemerkenswerte Rede hielt einer, von dem man es nicht unbedingt erwartet, auch wenn man natürlich Reden von ihm erwartet. "Eindrucksvoll" nennt newsroom.des Bülend Ürük die Leipziger Rede des ZDF-Intendanten Thomas Bellut zur Verleihung des Preises für die Freiheit und Zukunft der Medien. Zumindest enthält sie ungewohnte Töne für einen Lenker einer Rundfunkanstalt:

"Das Netz beschleunigt, erweitert oder verkürzt die Möglich­kei­ten der Recherche und Kontrolle und setzt damit alle Wahrheitssucher unter vehe­men­ten Aktualitätsdruck. Neben solche Fehlerquellen rückt ein immer schwie­ri­geres Quellenstudium: Wer hat welche Nachricht von wem? Und wie ist die Verbreitung von persönlichen, spontanen, emotio­nalen Mei­nun­gen auf der einen Seite ge­genüber substantiellen, fundierten, argumentativen Meinun­gen auf der anderen Seite vernünftig auseinan­derzuhalten und sinnvoll zu gewichten? Wann verliert wer dabei den Überblick? Sind Über­­blick und Durchblick überhaupt noch gefragt? Oder ist es inzwi­schen nicht manchen Nutzern erwünschter, mit Nachrichten­leuten oder mit den handelnden Personen selbst - sogar mit dem Papst - persönlich zu twittern, statt sich eine nachrichtliche 'Verkündigung' an­zuhören?"

Zur Erweiterung der Möglichkeiten der Recherche im Netz hat newsroom.de die gesamte Rede dann auch dokumentiert. (Und falls Sie nun gespannt sind, wer diesen Preis eigentlich bekommen hat: Hier sind die afghanische Journalistin Farida Nekzad und weiteren Preisträger genannt).

[+++] Zufällig war der prominenteste Vertreter des Unternehmens, das die Wahrnehmung dieses Internets zurzeit am stärksten steuert, gerade auch in Deutschland und hat auch eine Rede gehalten. Was Googles "Außenminister", wie kress.de den Chairman Eric Schmidt nennt, so sagte, braucht sich jedoch niemand auszudrucken. Bloß unterhaltsam ist, wie geradezu niedlich Schmidt seinen Konzern redet:

"Die 'Bild', die am meisten gelesene Tageszeitung in Europa, erzeugt rund 70 Prozent ihres Traffics direkt, weil Menschen die Seite bookmarken oder 'bild.de' direkt in ihren Browser eingeben. Etwas über 10 Prozent ihres Traffics kommt über Suchanfragen und etwas weniger als 10 Prozent aus sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter. ... Wenn Sie etwas kaufen möchten, vielleicht ein Campingzelt, können Sie auf Google oder Bing oder Yahoo oder Qwant, die neue französische Suchmaschine, gehen. Aber wahrscheinlich gehen Sie gleich auf Zalando oder Amazon ...",

Nur noch zehn Prozent der Internetnutzer googeln? Also, tun Sie's noch mal rasch, sonst ist Google schon wieder vom Markt verschwunden. Perfekt allerdings illustriert die Rede das, was Christopher Lauer heute auf der FAZ-Medienseite die von Google gepflegte "Sprache der Ausweichbewegung" nennt:

"Eine Sprache ohne Inhalt, die zwar aus Wörtern besteht, aber keine Informationen übermittelt. Da geht es dann darum, dass bloß nichts mit dem Internet gemacht werden darf, weil selbst Google nicht weiß, was mit dem Internet passieren wird, und da sei es halt besser, wenn man das Internet sich allein entwickeln lässt, am besten unreguliert."

Das eigentliche Thema Lauers (bekannt als Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, nicht aber mehr der Piratenpartei) ist dann, wie US-amerikanische "Überwachungskapitalisten" "so reden, als wäre keine Kamera dabei. Weil sie vielleicht auch nicht wussten, dass eine dabei war." Bei der Diskussionsveranstaltung am 8. Oktober "in einer Turnhalle in Kalifornien" war eine dabei, weshalb Lauer sie (ausgerechnet, bzw.: wo sonst?) bei Googles Videoservice Youtube gefunden hat und einige "Passagen verstörender Offenheit" daraus heute in der FAZ präsentieren kann. Nutzer können gelassen abwarten, bis der Text aus der gedruckten Zeitung bei faz.net erscheinen wird. Hier ist er. Kernaussage ist - nicht überraschend - dass "Google & Co. kein Interesse an deutschen oder europäischen Vorstellungen von Datenschutz oder informationeller Selbstbestimmung" hätten, sondern höchstens manchmal so täten.

####LINKS#### Selbstverständlich hatte Eric Schmidt in Deutschland in diesem Sinne auch noch Wichtigeres zu tun, als "vor rund 100 Unternehmensgründern sowie Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft" eine seltsame Rede zu performen. Zum Beispiel ist er auch mit Vizekanzler Sigmar Gabriel aufgetreten, der ja zu den nicht irre vielen Regierungspolitikern zählt, die gelegentlich Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung einfordern. Diese Veranstaltung wird von Gabriels Wirtschaftsministerium zur weiteren Erweiterung der Möglichkeiten der Recherche im Netz online gestellt werden. Widerschein gibt's natürlich bei Twitter.

Interessanter: das ebenfalls öffentliche Gastspiel von Googles Löschbeirat ebenfalls gestern in Berlin.

Der zehnköpfige Advisory Council "tourt nun durch Europa und lässt sich in sieben Hauptstädten von jeweils acht geladenen nationalen Experten beraten" (ebenfalls FAZ, siehe aber auch Tagesspiegel). Der Anlass ist einer der Anlässe, die die Diskussionen um Google so vertrackt machen: Ist das vom Europäischen Gerichtshof verfügte "Recht auf Vergessen" bzw. "Vergessenwerden" ein Fortschritt für Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung oder gerade gar nicht? Viele Meinungen liegen dazu vor. Abschließend beantwortet werden kann die Frage schon deshalb nicht, weil die Umsetzung dieses Rechts auf offiziösem Weg von Googles europäischen Ablegern vorgenommen wird. Und eben gerne öffentlich diskutiert wird:

"Matthias Spielkamp, Vertreter der Organisation 'Reporter ohne Grenzen', zeigte sich alarmiert und 'unglücklich' mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshof, die er als drastische Einschränkung der Pressefreiheit wertete. Indirekt machte er auf ein weiteres Problem aufmerksam, dass auch nachfolgende Redner ansprachen: die zunehmend unscharfen Grenzen zwischen Privatpersonen und Personen des öffentlichen Lebens, zwischen Journalisten und Bloggern, Suchmaschinenbetreibern und Redakteuren. Gilt etwa das Medienprivileg der Verwendung personenbezogener Daten auch für Blogger? Spielkamp plädierte dafür."

Dass die Meinung, "Googles Machtposition sei mit einer Verantwortung gegenüber seinen Nutzern verbunden", dann ausgerechnet von einem Richter des Berliner Landgerichts geäußert worden sei, ist auch nicht gerade Anlass zur Beruhigung. Die FAZ, die bekanntlich ebenfalls ihre Agenda verfolgt und (außer im Wirtschaftsressort) nicht zu den Google-Freundeskreis zählt, spitzt folgende These breit zu:

"Suchmaschinenbetreiber sind vielleicht nicht die Justiz von morgen, aber möglicherweise die Redakteure der Zukunft - wenn auch solche in zweiter Instanz."

Zumindest das Gewichten von spontanen, emotionalen Meinungen und substantiellen, argumentativen Meinungen sollte dann kein Problem mehr sein ... Es ist einfacher, imposantes Zahlenmaterial zu zitieren ("... In Deutschland liegt die Quote bei 53 Prozent. Hier gab es seit Mai 25300 Anträge zu 88974 Webseiten" - welche Quote habe ich dem Tsp.-Artikel allerdings nicht entnehmen können) als schnell eine fundierte Meinung zur bestmöglichen Umsetzung des Rechts aufs Vergessenwerden zu entwickeln.

[+++] "Hinter den Kulissen ... eifrig ... berichtet" (wuv.de) wird über die gestern im Altpapier oben erwähnte, nicht rundum brandneue Handelsblatt-Exklusivmeldung von einer geplanten Netflix-artigen Video-Plattform der ARD und einiger deutscher Produktionsfirmen. "Zu hören ist, dass sich das Ganze noch in einem sehr frühen Stadium befinden soll", lehnt Lisa Priller-Gebhardt sich aus dem Fenster. Das Raunen sollte ihr aber niemand übel nehmen. Sie weilt offensichtlich in Cannes, wo gerade Fernsehmesse ist.

Wer jeden Umtrunk in angemessenen Worten würdigt, ist natürlich dwdl.de. Siehe aber an, auch bereits ganz begeistert, obwohl er vermutlich keine Cocktails an der Croisette schlürft, ist Jürgen Vielmeier von netzwertig.com, also einem Portal, das eigentlich selten Tage verstreichen lässt, ohne auf Fehler der Altmedien aufmerksam zu machen: "Alles, worauf deutsche Serienliebhaber seit Jahren pochen, könnte besser spät als nie plötzlich doch noch in Erfüllung gehen", leitet er eine Zusammenfassung von frischen Ankündigungen guter deutscher Fernsehserien an, die sich auf einmal ballen. "Wir sehen tatsächlich gerade ein goldenes Zeitalter fürs Fernsehen", zitiert er Martin Moszkowicz von der Constantin-Film, der dieses am Montag zur Süddeutschen geäußert hatte (das Interview steht nicht frei online, Aggregationen gibt's von der DPA und bei dwdl.de). Die Constantin wolle in anderthalb Jahren mindestens vier bis fünf Fernsehserien, deren Kosten "bei 2,5 bis fünf Millionen Dollar pro Folge" lägen, produzieren, war eine der Kernaussagen. Natürlich war Moszkowicz guter Laune, weil er auch auf dem Sprung nach Cannes war. Die Süddeutsche war dann auch guter Laune, weil er erzählte, dass sozusagen auch ihre eigene Vorgeschichte als Qualitätsserie verfilmt werden könnte:

"Ein anderer Stoff, an dem wir arbeiten, ist 'Die Giftküche'. Es gab in den 20er-Jahren eine Zeitung in München, die hieß 'Münchner Post', die hat wie keine andere deutsche Zeitung gegen den Aufstieg der Nazis gekämpft. Die hatte eine Redaktion in der Sendlinger Straße und wurde 1933 natürlich geschlossen, die meisten Mitarbeiter sind in der Nazizeit umgekommen. Einer von ihnen, Edmund Goldschagg, hat überlebt, und nach dem Krieg hat er die Süddeutsche Zeitung mitgegründet. Wir entwickeln den Stoff in den USA fürs Kino und in Deutschland als Serie."

Und mir nichts dir nichts sind deutsche Fernsehserien etwas, das allen ein Lächeln aufs Gesicht zaubert! Selbst aus anderen Onlineecken geäußerte Gegenpositionen (digitalfernsehen.de) zielen weniger darauf, dass unsere TV-Produzenten im Ereignis-Ankündigungen schon immer Weltniveau besaßen als darauf, dass das Fernsehen schon lange golden sei, was Experten wie Volker Herres und gewiss auch Thomas Bellut auf Anfrage sicher sofort bestätigen würden. Wenn dieser Trend sich verdichtet, wäre es die krasseste Trendumkehr der Mediennutzung mindestens in diesem Jahrzehnt.

Und wer sich den positiven Swing noch etwas bewahren möchte, sollte lesen, wie Leonhard Dobusch bei netzpolitik.org eine bereits gedrehte und gesendete Folge einer deutschen Sat.1-Serie nicht nur, aber auch für ihr netzpolitisches Bewusstsein lobt (und sich wundert, dass niemand in seiner Twitter-Timeline solche Serien empfahl).


Altpapierkorb

+++ "Ich weiß, dass es in dem Fall nicht um uns ging. Es geht um die Pressefreiheit in der Türkei, um Einschüchterung von Reportern. Wir hatten schlicht Glück, dass wir deutsche Staatsbürger sind. Den einheimischen Reportern geht’s viel schlechter", sagte der in der Türkei zeitweise verhaftet gewesene Berliner Björn Kietzmann einem seiner Auftraggeber, der TAZ. +++ Siehe auch BLZ/ AFP. +++

+++ Schon mal Kritik daran, wie die Ministerpräsidenten der Bundesländer die neue, vom Bundesverfassungsgericht angeordnete staatsfernere Besetzung der ZDF-Aufsichtsgremien "auskegeln", übt die FAZ. Hauptanliegen sei, dass "eines bleibt: Der Einfluss der Bundesländer beziehungsweise Landesregierungen", meint Michael Hanfeld. +++

+++ Der Bundesgerichtshof entscheidet nun darüber, welche Pflichten Medien nach an sich rechtmäßiger Verdachtsberichterstattung haben, wenn der Verdacht sich nicht bestätigt hat. Geklagt hat der Spiegel. Im speziellen Fall, den die SZ schildert, habe er "alle Sorgfaltspflichten eingehalten. Beim Zwang zu einer Korrektur werde das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Medien untergraben, sagte der Anwalt des Magazins. Zum andern sei die Pressefreiheit gefährdet, wenn sich ein Medium nach rechtmäßiger Verdachtsberichterstattung von dieser distanzieren und unter dem Titel 'Richtigstellung' nachträglich 'ins Unrecht' setzen müsse ..." +++ Ebd., in der SZ machte David Denk die Lektüre der neuen Zeitschrift Emotion Slow "traurig" und "dann auch ein bisschen wütend" sowie "deprimiert". Das Versprochen der Emotionalität hält das Blatt also! Ist's eine Gruner + Jahr-Zeitschrift? Nein, Emotion war mal eine, erscheint inzwischen aber in der unabhängigen Emotion Verlag GmbH. +++ Außerdem geht's um die Newsweek-vs.-newsweeklied.com-Sache. +++

+++ Neues Problem für Bertelsmann? Buchclub-Vertriebspartner klagen (TAZ-Meldung). +++

+++ Der heute - ohne Fußball-Gegenprogramm! - in der ARD gezeigte Spielfilm "Landauer - Der Präsident" ist in der Vorabberichterstattung breit gewürdigt worden. Dass die ARD-"Sportschau" in ihrem eigenen Vorabbericht die Bayern-München-Fans, die den Vergessenen erst wieder entdeckt haben, überhaupt nicht erwähnte, steht in der TAZ. +++ Heute geht's um das Werk der beiden bayerischen -bichlers (Regisseur Hans Stein-, Schauspieler Josef Bier-) im Tagesspiegel unter der Überschrift "Liebe lässt sich nicht ermorden". +++ Und natürlich im TV-Tipp des Tages nebenan. +++

+++ "Das konfliktreiche Verhältnis... , das sich zwischen Europa und den Supermächten der Technologiewelt entsponnen hat", schildert das deutsche Wallstreetjournal am Beispiel französischer Auseinandersetzungen um Googles Steuern. +++

+++ Nico Lumma, der in seiner handelsblatt.com-Kolumne gerade noch Jaron Lanier (AP vom Montag) entgegen rief: "Das Internet zerstört unser Leben nicht!", kolumniert nun auch für bild.de. "In seinem eigenen Blog rechtfertigt er den Schritt wortreich, Blogger Felix Schwenzel findet die Kolumne wenig originell" (turi2.de, mit den Links). +++

+++ Zu den vielfältigen Qualitätsfernseh-Reihen, die die schon erwähnte Constantin herstellt, gehören die Hamburger "Tatort"-Folgen mit Til Schweiger nicht mehr (dwdl.de). +++

+++ Und den WDR nach den enorm umfassenden Tätigkeiten, die der streitbare Kohl-Ghostwriter und -Biograf Heribert Schwan lange Jahre auch während seiner WDR-Zeit erledigt hat, hat der Tagesspiegel gefragt. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

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