Predictive Policing

Predictive Policing

Nur die Polizei will dank Facebook vorher klüger sein, die Medien sind's wie immer hinterher: Der Nadja-Drygalla-Fall, der Facebook-Börsengang, Königshaus vs. Deutschlandradio Kultur.

Lesen gerade in der TAZ:

"Die alte Idee von intellektueller Führerschaft befindet sich auf dem absteigenden Ast."

Oh.

"Dass es Expertenzentren gibt, die Wissen authentifizieren, und dass alles, was durch diese Filter zu uns vordringt, etwas ist, woran wir glauben sollten – diese Idee wird gerade einer radikalen Revision unterzogen."

Erklärt der Autor David Weinberger, der sich mit der Wissensorganisation in Zeiten des Internets beschäftigt, Meike Laaff im Interview. Einer Revision unterzogen hat DLR Kultur nun die Löschung des Pokatzky-Kommentars über den Wehrbeauftragten Königshaus, der sich umgehend darüber beschwert hatte (Altpapier von gestern). Der Kommentar ist wieder da.

Hieß es zur Begründung der Löschung noch, der Beitrag sei aus "rein journalistischen" Gründen entfernt worden, ist nun von einer "Abstimmungspanne" die Rede. Wie schön ist doch dieses havaristische Vokabular, das die Möglichkeit zum Rückzug gestattet, ohne zu deutlich zu werden. Sounds alles ein bisschen nach technischem Versagen. Bülend Ürük berichtet auf newsroom.de.

[+++] Eine Revision maßt auch Bundesverteidigungsminister Thomas de Mazière (CDU) im Falle Drygalla an und meint damit die Medien.

"Der Fall werfe die Frage auf, wo die Grenze zwischen privat und öffentlich liege, sagte de Maizière in London vor Journalisten. Er glaube, diese Grenze sei im Fall Drygalla überschritten worden. 'Wir sind hier nicht in einem Ermittlungsverfahren.' Es müsse die Lehre gezogen werden, behutsamer mit solch einem Fall umzugehen, so de Maizière."

Schreibt Spiegel-Online. Wie das in der von Weinberger beschriebenen Welt funktionieren soll ist noch offen.

Bemerkenswert ist immerhin, dass die Plattform Kombinat-Fortschritt.com, die die Geschichte ins Rollen gebracht hatte, weit sorgsamer und differenzierter mit dem Fall umgeht als die Großmedien.

"Die junge Ruderin und ihre braune Liebschaft – eine solche boulevardeske Aufmachung erscheint sehr verlockend."

Hieß es schon in einer ersten Reflektion über das Echo auf die eigene Veröffentlichung. Die Vermutung, dass Aspekte fern des Politischen und so was wie der Wahrheit eine größere Rolle spielen bei der medialen Verwurstung, liegt nicht so fern.

In einem zweiten Update des Kombinat-Fortschritt heißt es weiter:

"Die Welt hatten in zwei Artikeln behauptet über entsprechendes Material zu verfügen, welches die Ruderin auf einer Kundgebung zeigen würde. Das Foto war uns natürlich bereits bekannt. Und umso überraschter waren wir, dass es Nadja Drygalla zeigen sollte.... Obwohl niemand aus der Redaktion der Welt bisher mit uns Kontakt aufgenommen hatte, entschlossen wir uns mit dem Betreff: ‘Eventuelle Falschmeldung bzgl. Drygalla bei Demo in Malchow’ eine Email an die Welt zu schicken. Wir wiesen darauf hin, dass, sofern sie sich auf oben angesprochene Bild beziehen, wir nicht davon ausgehen, dass es Drygalla zeigt. Auch einen Tag später gab es bisher gab keine Reaktion. Stattdessen findet sich das Bild heute in der ‘Welt am Sonntag’ und trägt die Bildunterschrift ‘ […] Ist Nadja Drygalla die blonde Frau mit dem weißen Pullover rechts?’"

De Mazières berechtigte, auf SpOn zitierte Frage –

"'Müssen wir von Sportlerinnen und Sportlern verlangen, dass sie offenbaren, mit wem sie befreundet sind, was die denken? Wo ist da die Grenze?'"

– betrifft also einen Boulevard, der sich darum nicht schert. Die an der Sache interessierten Aktivisten vom Kombinat-Fortschritt versuchen, diese Grenze dagegen gewissenhafter zu eruieren:

"Während wir also mit einiger Gewissheit sagen können, dass die Meldung der Welt eine Ente ist, sind wir uns mit Blick auf den angeblichen Szeneausstieg von Michael Fischer erheblich unsicherer. Nach Angaben Drygallas soll er bereits im Mai aus der NPD ausgestiegen sein und sich vom rechten Gedankengut distanziert haben, einschließlich der Nationalen Sozialisten Rostock. Doch Bilder die verschiedene Frauen in Nazikleidung zeigen, wurden noch Ende Mai hochgeladen."

[+++] Revision ganz anderer Art betreibt das Handelsblatt in Sachen Facebook. Der Börsengang vor drei Monaten liest sich in dieser Darstellung wie kalkuliertes Abkassieren, das, um mal einen Modebegriff zu verwenden, nachhaltig schwer zu nennen ist:

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"Peter Thiel, der acht Jahre zuvor 500.000 Dollar in Facebook investiert hatte, verkaufte 16,8 Millionen Aktien für 638 Millionen Dollar. Die US-Bank Goldman Sachs versilberte ihre Facebook-Aktien für 923 Millionen Dollar, der russische Investmentfonds DST Global erlöste 1,7 Milliarden Dollar, der US-Fonds Accel Partners kam sogar auf 2,1 Milliarden Dollar. Alle Verkäufe fanden in den ersten Tagen nach dem Börsengang statt - zu Kursen zwischen 36 und 45 Dollar."

Um das mit der Nachhaltigkeit aka dem steten Cash Flow zu verbessern, müsste nach diesem Muster wohl bald der monatliche Börsengang eines Unternehmens möglich werden.

Flankiert wird der Beitrag von Ausflügen in die Geschichte sozialer Netzwerke.

"AOL zahlte 850 Millionen Dollar für Bebo - das Investment wurde sofort von Facebook überrollt. Schon 2010 wollte AOL Bebo wieder schließen – schließlich bot der Investor Criterion Capital einen Gnadenpreis: zehn Millionen Dollar."

Über Facebook handelt auch Evgeny Morozov in seiner "Silicon Demokratie"-Kolumne in der FAZ (Seite 32, hier die englische Variante). Diesmal geht es um die Polizei, die in den Datensätzen von Amazon und Facebook reiches Ermittlungsmaterial findet.

"Es besteht die Erwartung, dass eine ausgeklügelte Analyse von Informationen über verübte Straftaten, in Verbindung mit hochkomplexen Algorithmen, zur Prävention von Straftaten beitragen kann. Diese Methode wird als 'Predictive Policing' bezeichnet, und obwohl sie erst wenige Jahre alt ist, sehen viele darin eine Revolutionierung der polizeilichen Arbeit. Amerikanische Polizisten sind schon längst überzeugt von diesem Ansatz; die Europäer, an der Spitze die Briten, holen allmählich auf."

David Weinberger berühren wie die meisten Menschen diese Aspekte nur abstrakt. Zwar weiß er:

"Und ein unglaublich wertvolles System privater Beziehungen gehört heute einer Firma, die kommerzielle Interessen hat. Das ist potenziell ein Desaster."

Sagt aber auch:

"Ich weiß, ich bin in dieser Frage naiv. Ich mache mir weniger Sorgen um die Privatsphären als die meisten anderen Menschen. Mir ist es egal, was Computer über mich wissen - solange die Eigentümer dieser Information damit nichts tun, das ich nicht mag."


ALTPAPIERKORB

+++ Agnes Krumwiede, die kulturpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen, schreibt in der FAZ (Seite 33) ein großen Text über die Gema und ihre Kritiker, macht es dabei aber irgendwie allen recht: "Eine Öffentlichkeit, der die Gema als Feindbild vorgeführt wird, übt auch Druck auf die Politik aus. In den Fokus rückt die rechtliche Grundlage der Forderungen gegen Youtube/Google – das Urheberrecht. Google nutzt für Stimmungsmache nicht nur seine Videoplattform. Im Wissenschaftsbereich hat der Konzern Wege entdeckt, damit in seinem Sinne geforscht und publiziert wird." Wer bei diesen wohlfeilen Lobbyismusvorwürfen an alle Beteiligten freilich zu kurz kommt, sind die Urheber und die Konsumenten selbst. Um die sollte sich die Politik doch aber eigentlich kümmern. +++

+++ Ins Fernsehen. Christopher Schmidt ist von einem Film anlässlich des 50. Todestags von Hermann Hesse in der SZ (Seite 27) wenig angetan: "Alles ist hier, wie so oft in Dokumentationen über tote Dichter, auf Abschied gestimmt, im Ton piano, in der Anmutung sepia. Dazu aus dem Off der mürbe Bariton des Sprechers Ulrich Noethen, der mit dem zweiten Sprecher Ingo Hülsmann alterniert. Warum muss es bei Literatursendungen eigentlich immer dieser Nachtgedanken-Sound sein?" +++ Joachim Huber diskutiert im TSP die Konkurrenz, die Supertalent-Gottschalk dem Lanz-"Wetten, dass..?" machen wird: "Der Privatsender nimmt sich den Vorteil, das 'Supertalent' bereits am 15. September zu starten. Da soll ein Publikum generiert und gewonnen werden, das RTL gegenüber dem ZDF bevorzugt. Am 6. Oktober wird das nicht gelingen, da wird die Neugier auf Lanz’ 'Wetten, dass..?' zu groß sein. Und ist der Septemberstart wirklich ein Vorteil? Was, wenn das Publikum dem neu aufgestellten 'Supertalent' früh die kalte Schulter zeigt?" +++ Alexander Krei auf dwdl.de ist erfreut von der wiederaktivierten "Pyramide" auf ZDFneo, auch von Moderator Micky Beisenherz: "Bestanden hat er seine Bewährungsprobe aber allemal." Vor all der Kindheitsseligkeit bleibt aber bemerkenswert, wie Beisenherz sich, mit dem Rücken zum Publikum, am Pult festhält und Text aufsagt. Da merkt man erst, wie groß das laufende lässig-manierierte Handgelenkswackeln von Dieter Thomas Heck eigentlich war – zu sehen in dieser Folge aus der Mitte der achtziger Jahre, die Markus Ehrenberg in seinem mittlerweile auch auf zeit.de releasten Text merkwürdigerweise auf den 8. September 1971 datiert – da gab es weder die "Pyramide" noch die Prominenz von Nena und Heiner Lauterbach. +++

+++ Beim Olympiagucken wundert sich Katrin Schulze im TSP über die rausgeputzten Ladies und gockelnden Herren. +++ Die Berliner beschreibt dagegen den medialen Umgang mit dem Ereignis in verschiedenen Ländern. Frankreich etwa: "Die Boulevardzeitung Le Parisien reicht erst nach einem halben Dutzend Seiten über die Erfolge französischer Sportler den Medaillenspiegel nach. Der Vergleich mit den anderen Nationen, das Gefühl, besser zu sein, ist nicht wichtig. Das Gefühl, gut zu sein, genügt." +++ Im Tagesspiegel redet Sandra Maischberger über ihr erstes Gespräch nach der Sommerpause mit dem frischverliebten Helmut Schmidt. +++

+++ Im Bildblog macht Stefan Niggemeier die vom nämlichen Blatt geschürten Hoffnungen zunichte, "Breaking Bad"-Fans könnten ihren Serienstars ab November in Hannover "vor die Füße laufen", weil dort gedreht würde. +++ Ruedi Widmer extemporiert anlässlich der Booklet-Reihe von Diaphanes in der NZZ nicht immer ganz namenssicher über Serien wie "The Wire" und "Sopranos". +++

+++ Der Tod der Schauspielerin Silvia Seidel wird unter anderem auf stern.de vermeldet. ++++

Neues Altpapier gibt es morgen wieder.

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