Jagd auf die Unbestechlichen - Altpapier I/2012

Jagd auf die Unbestechlichen - Altpapier I/2012

Was passiert 2012 in der Medienbranche? Hier steht es. Teil I der legendären Jahresvorschau mit neuen Jobs für Reinhold Beckmann, Ulf Poschardt und Thomas Bellut, einem neuen Buch von Giovanni di Lorenzo, Googles Gesichtsscanner und Aufklärung beim MDR.

Von Christian Bartels, Matthias Dell, René Martens und Klaus Raab

Januar

+++ Die Zeitungsgruppe M. DuMont Schauberg überrascht die Branche mit einer neuen Print-Strategie: Die Berliner Zeitung erscheint ab 8. Januar mit nur noch einer Seite pro Ressort in einem Bund. Die ebenfalls aus Berlin bestückte Frankfurter Rundschau schrumpft vom unhandlichen Tabloid-Format auf die praktische DIN A6-Größe. Eine Verlagssprecherin: "Wo Mitbewerber versuchen, 'magaziniger' zu werden, gehen wir unter dem Stichwort 'Ästhetik der Konzentration' mutig einen anderen Weg." Dabei beruft sich der Verlag auch auf die Tradition: Die ersten Druckzeitungen im 17. Jahrhundert seien auch nicht 100 Seiten stark gewesen.

+++ Til Schweiger wird nun doch nicht die Rolle die Hamburger "Tatort"-Kommissars übernehmen. Dies berichtet die aktuelle unter Berufung auf einen Fitnesstrainer-Assistenten Schweigers in ihrer zweiten Ausgabe 2012.

+++ Googles Gesichtsscanner ist serienreif und ab sofort unter dem Markennamen "Google Cheese!" auf jedem mit dem Betriebssystem Android ausgelieferten Computer vorinstalliert.

+++ Reinhold Beckmann (Foto rechts, mit Boris Becker) steigt aus seinem noch bis 2013 laufenden ARD-Vertrag aus, weil seine Quote am Donnerstag zuletzt auf 3,4 Prozent in der Zielgruppe der 33- bis 34-jährigen gesunken war und die Hierarchen der ARD keine Anstalten machten, ihn von seinem Sendeplatz zu erlösen. Der nachdenkliche Gelegenheitssänger heuert bei Sat.1 an. Über die Höhe der Ablösesumme, die der Privatsender an die ARD zahlt, wurde Stillschweigen vereinbart. Dass sein alter Weggefährte Johannes B. Kerner bei Sat.1 zuletzt mit seiner Namensshow gescheitert war, ficht Beckmann nicht an: "Ich bin froh, wieder zu Hause zu sein." Der Allrounder soll die Spiele der Frauen-Volleyball-Bundesliga kommentieren, deren Rechte sich ProSiebenSat.1 gerade bis 2022 gesichert hat. +++

+++ Thomas Gottschalks neues Vorabendformat "Gottschalk live" startet am 23. Januar in der ARD. Der frühere "Wetten, dass..?"-Moderator setzt sein angekündigtes Konzept, Nachrichten zu thematisieren, die in der "Tagesschau" nicht auftauchen, radikal um - und kommentiert mit spielerischer Leichtigkeit (und in einem wunderschönen Leopardenfellanzug) die politische Lage in Kolumbien, Kamerun und Bangladesch. +++ Am Donnerstag fragt Joachim Huber im Tagesspiegel "Geht das gut?" und verweist auf den Quotenknick in der Sendung vom 24. Januar (minus 53 Prozent im Vergleich zum Vorabend). +++

+++ "Querdenker-Award"-Träger Til Schweiger erklärt im Interview mit Auf einen Blick die Hintergründe seines spektakulären "Tatort"-Ausstiegs. Beim Zappen im höheren zweistelligen Bereich seiner Fernbedienung sei er auf das vom NDR verantwortete Politmagazin "Panorama" und darin auf einen Beitrag gestoßen, der sich auch kritisch zu der vom Schauspieler leidenschaftlich verteidigten Vorratsspeicherung äußerte. "In so einem Umfeld fühle ich mich nicht wohl", sagt der Top-Darsteller. "Ich weiß nicht, was diese Politmagazin-Intellektuellen eigentlich wollen". +++


Februar

+++ Der liberale Großdenker Ulf Poschardt wechselt von der Welt am Sonntag zur FDP und wird dort neuer Generalsekretär. Er löst den erst im Dezember angetretenen Patrick Döring ab. Poschardt kommentiert die Personalie in eigener Sache mit einem hintersinnig-verspielten Verweis ins Cineastische: "Die Welt ist nicht genug." Außerdem, so der 44-jährige "juvenile Zyniker" (Cicero), "ist es mir eine Ehre, der Partei meines Herzens in einer der schwierigsten Phase ihrer Geschichte helfen zu können.“ Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner reagiert sichtlich bestürzt: "Niemand, abgesehen vielleicht von mir selbst, hat zur Modernisierung der Welt am Sonntag so viel beigetragen wie Dr. Poschardt." +++

+++ Erneut Aufregung um "Panorama": Christoph Lütgert, Urgestein der Presenter-Reportage beim NDR, der schon 2011 für mit seinem Film über AWD-Gründer Carsten Maschmeyer für Diskussionen gesorgt und auf der Jahreshauptversammlung des Netzwerk Recherche (NR) einen Eklat mitverursacht hatte, in dessen Folge er aus dem NR austrat, stellt seinen neuen Film "Jagd auf die Unbestechlichen" fertig. Im Beitrag der "Panorama-Reporter"-Reihe soll es um Machenschaften beim NR gehen, in dem versehentlich Fördergelder der Bundeszentrale für politische Bildung falsch abgerechnet wurden. Lütgert: "Als Externer mit Insiderwissen bin ich der ideale Mann für den Stoff." Das NR erwirkt eine Einstweilige Verfügung. Unbestätigten Angaben zufolge soll die beauftragte Anwaltskanzlei für das eineinhalbseitige Schreiben 13.984 Euro in Rechnung gestellt haben. Es handele sich dabei um einen in Branche "gängigen Satz", gab ein Anwalt gegenüber Meedia.de zu Protokoll. +++

+++ Wenige Wochen nach dem "Google Cheese!"-Start regt sich, angefeuert vom schleswig-holsteinischen Datenschutzbeauftragten Thilo Weichert, immer mehr Protest in Deutschland. Googles Executive Chairman Eric Schmidt reagiert zunächst unwirsch ("If you don’t want to be identified in public, maybe you shouldn’t be running around in the first place..."). Nach einem Krisengipfel mit Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner in Mountain View wird speziell für deutsche Bedenkenträger ein Kompromiss entwickelt: Wer partout nicht erkannt werden möchte, kann am deutschen Google-Sitz in Hamburg sein Gesicht blurren lassen (Foto). Das schmerzarme Verfahren wird unter rundfunkrechtlicher Federführung des Hans-Bredow-Instituts von Experten des Robert-Koch-Instituts durchgeführt und kostet Verbraucher mit einer Überweisung vom Hausarzt nicht einmal die Praxisgebühr. +++

+++ Ulrike Simon enthüllt in der Berliner Zeitung, dass Mathias Döpfner als Poschardt-Nachfolger unbedingt die Reporterlegende Günter Wallraff gewinnen möchte. Der Springer-Boss soll bereits einen Verlagschauffeur mit einem Blankoscheck nach Köln-Ehrenfeld entsandt haben. +++

+++ Als neuer Kommissar für den „Tatort“ aus Hamburg ist Lothar Matthäus im Gespräch. Der für die Krimireihe zuständige NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber äußert sich auf eine diesbezügliche Nachfrage von Tatort-Fundus.de sibyllinisch: "Wir wollen jemanden finden, der Til schauspielerisch das Wasser reichen kann." Ein Dementi klingt anders. +++ Experte Rainer Tittelbach, der bereits die Fernsehfilmproduktion von ARD und Sat.1 bis zum 17. Oktober besprochen hat, verweist auf die guten "Tatort"-Erfahrungen, die der NDR bereits mit dem Fußballlehrer Berti Vogts gemacht hat. +++

+++ MDR-Intendantin Karola Wille ist 100 Tage im Amt. Journalisten von Funkkorrespondenz, epd, TAZ und Leipziger Volkszeitung rufen an und fragen, was denn jetzt sei mit Transparenz und Aufklärung. Wille beruft, was sie als Zeichen der Transparenz zu verstehen bittet, umgehend eine Pressekonferenz ein, die auch per Live-Stream im Internet übertragen wird, und äußert sich zum Thema Aufklärung: Die werde, wie angekündigt, als Chefsache betrieben, daher habe auf ihren Wunsch der MDR vom Heinrich-Bauer-Verlag die Rechte an "Bravo TV" erworben. +++

+++ 2012 ist schon jetzt, was Nicholas Carr 2011 prophezeite: das Jahr der Appification der Medien. Die Medienhäuser appifizieren im ganz großen Stil, Schweizer und US-Zeitungen vorneweg. Die NZZ bietet Kultur-, Wirtschaft-, Politik-, Sport- und Tiefdruck-Äpplis an. Die Texte kann man sich auf Wunsch laut vom Verfasser vorlesen lassen. Dazu gibt es Agenturfotos, die zum Teil sogar in sogenannten Fotogalerien angeordnet sind. +++


März

+++ Das Buch "Klartext talken!", in dem Reinhold Beckmann, einfühlsam befragt von Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, die Hintergründe der Talkshowkrise nicht nur schonungslos aufdeckt, sondern auch Auswege aufzeigt, schießt auf Anhieb auf Platz 89 der Amazon-Charts "Television, Haustiere & Liedermaching". Die von Beckmann und di Lorenzo selbst eingelesene Hörbuch-Version (gekürzte, autorisierte Fassung) erreicht noch bessere Platzierungen. +++

+++ Thomas Bellut tritt seinen Posten als ZDF-Intendant an. "Das ZDF setzt auf eine nachhaltige Kultur der Partizipativität", lässt der neue Boss am Mainzer Lerchenberg verlauten. Peer Schader klärt in seiner neuen Blog-Rubrik "Reden wie Thomas Bellut" auf: Bellut lässt künftig jeden Morgen per Angestelltenvoting über die ZDF-Kantinengerichte abstimmen. +++ Erste öffentliche Amtshandlung des Intendanten: Bellut verkündet die seit über einem Jahr gespannt erwartete "Wetten, dass...?"-Nachfolgelösung. In zunächst 24 Primetime-Ausscheidungsshows (in den Sommermonaten wöchentlich aus Mallorca) "Unser Star für 'Wetten, dass...?'" werden bis September das ZDF und der in der jungen Zielgruppe beliebte Sender ProSieben geeignete Kandidatenteams auf Herz und Nieren prüfen. In einem bundesweiten Casting können sich professionelle Fernsehentertainer ebenso wie unverbrauchte Nachwuchstalente als Kandidaten für den begehrtesten Job im europäischen Fernsehen bewerben. Der (nicht abstimmungsberechtigten) Fachjury unter Präsident Stefan Raab gehören Thomas Gottschalk, Hape Kerkeling, Frank Elstner und Wolfgang Lippert an. +++

+++ Infolge anhaltender Kalamitäten um den Phone-Hacking-Skandal verliert Rupert Murdoch endgültig die Lust am Tageszeitungsgeschäft in Großbritannien - und stößt die Sparte an die Bauer Media Group ab, die bereits britischer Marktführer im Zeitschriftenbereich ist. "Wir sind froh, dass unsere Zeitung nun an einen Konzern gehen, der international für seriösen Qualitätsjournalismus steht“, sagt Times-Chefredakteur James Harding. Premierminister David Cameron fügt hinzu, indem Bauer Murdochs Zeitungen erworben habe, habe der Hamburger Konzern bereits unermesslich viel für die Pressevielfalt und damit für die Demokratie in Großbritannien getan. "Ick bin ein Bauer", ruft der Premierminister wenig später unter tosendem Beifall im britischen Parlament aus. +++

+++ Lothar Matthäus sagt dem NDR ab. Die Neue Zürcher Zeitung hat den wortgewaltigen Franken als Regionalleiter Nordbayern/Südthüringen ihrer Artikelvorlese-App verpflichtet: "Lokal legitimierte Wiedererkennbarkeit stärkt die Marke NZZ in diesem Bereich", heißt es aus Zürich. +++

+++ Im "Krieg der Internetgiganten" (turi2.de) um innovative Gadgets ziehen Apple und Facebook nach. Die neueste Version von Apples Spracherkennungssystems Siri erkennt alle Gespräche im Umkreis von 50 Metern des Supersmartphones (iPhone 13.2.: 100 Meter) und veröffentlicht sie als Text- oder Audiobeitrag auf allen Facebook-Accounts, die beteiligten Gesprächspartner zugeordnet werden können. Anders als Google kommt Apple datenschutz-obsessiven deutschen Nutzern proaktiv entgegen: Registrierte Kunden des iTunes-Stores, die mindestens eine Transaktion im Quartal tätigen, können Sprachproben am Telefon (2,17 Eur/Min., Mobilfunk via Android/ Windows etc. abweichend) hinterlegen und sich so von den Services befreien lassen. +++

+++ Das Rennen um die Nachfolge Ulf Poschardts als stellvertretender Welt am Sonntag-Chefredakteur macht überraschend der Blogger und Unternehmensberater Thomas Knüwer. Gerade wegen seiner Polemiken gegen das Totholz-Milieu sei der angriffslustige Westfale (Branchenspitzname: "Tommy Gun") prädestiniert, die Modernisierung des Qualitätsblatts weiter voranzutreiben und kreative Vertriebsszenarien zu entwickeln, erklärt Konzernchef Mathias Döpfner. Knüwers erste Maßnahmen: Er verpflichtet den Blogger und Unternehmensberater Jiff Jarvis ("What would Grover do?") als Berater der Chefredaktion. Springers Außenminister Christoph Keese, der blogosphärenintern als Widersacher Knüwers gilt, erklärt aus Protest seine sofortige Kündigung. Was zwei Monate später bemerkt wird, als die zweite Ausgabe der deutschen Wired erscheint, deren Impressum Keese als Chefredakteur nennt. Aus der Tatsache, dass Wired erstmals im Bundle mit der Szenejagdzeitschrift Halali ausgeliefert wird, schließen Branchenkenner, dass Keese an gutem Kontakt zum Condé-Nast-Deutschland-Chef und bekennenden Jäger Moritz von Laffert gelegen ist. Auf meedia.de analysiert Stefan Winterbauer: "Keese zimmert mit dem roten Faden der Sympathie ein Konzernchef-Paket, das sich mit dem zweiten Augenzwinkern als Jobsicherungsmaßnahme gewaschen hat." +++

Teil II der Jahresvorschau 2012 folgt am Mittwoch.

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