Vorkämpferinnen vorgestern und übermorgen

Vorkämpferinnen vorgestern und übermorgen

Alice Schwarzer und Stephanie zu Guttenberg wissen, wie die Medien funktionieren. Erstere kennt sogar den größten ARD-Zensurskandal. Außerdem: "Sportschau" in Gefahr? Rivva wieder da!

Was macht eigentlich Alice Schwarzer? Lange nichts gehört, seit einer vollen Woche nun gar schon.

Heute kommt nun einerseits die Meldung rein, Schwarzer tanze gemeinsam mit Gisela Friedrichsen und Sabine Rückert, weiteren "Rächerinnen ihrer eigenen Wahrheit", "um den verlassenen Scheiterhaufen" für Jörg Kachelmann und singe "jucheihassa!", weil die Staatsanwaltschaft ja nun Revision eingelegt hat und der Kachelmann-Prozess nach der an dieser Stelle ja schon erwarteten Sommerpause weitergehen wird. Freilich mag es sich bei dieser News auch um Polemik handeln. Wer kann das schon beim schnellen Kuratieren schon genau sagen. Das Label der TAZ-Kriegsreportage spricht dafür.

Andererseits springt einen heute aus dem Berliner Tagesspiegel eine hoch seriöse gedruckte Talkshow mit Schwarzer als einzigem Gast an.

Der Anlass ist sozusagen exponentiell medial. Vorgestern vor 40 Jahren, am 6. Juni 1971, war die damals besonders renommierte Illustrierte Stern mit ihrem berühmten "Wir haben abgetrieben"-Titel (siehe Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland) herausgekommen. Als Initiatorin dieser Aktion gilt Schwarzer. Heute abend bei Arte läuft deswegen die Dokumentation "Wir haben abgetrieben - Das Ende des Schweigens", und darüber plaudert Thomas Gehringer ausgiebig mit ihr.

"Ohne die Beteiligung prominenter Frauen hätte es die 'Stern'-Titelgeschichte nicht gegeben?"

"Vermutlich nicht. Oder zumindest nicht so prominent präsentiert. So funktionieren die Medien."

"War es schwierig, Prominente zu finden?"

"Nein, überhaupt nicht. Die Zeit war einfach reif...."

Vielleicht hätte man, wenn es laut Überschrift auch um "die Fortschritte des Feminismus" geht, ganz gern erfahren, was Schwarzer denn zum am heutigen Mittwoch gerade noch aktuellen Stern-Titel ("Das Leben und Sterben der Sexy Cora") sagt. Aber Schwarzer hat eine spektakuläre Anekdote mitgebracht, den "bis heute ...größten Zensurfall in der Geschichte der ARD", der sich anno 1974 im Umfeld des Magazins Panorama, auch so eines derzeitigen Jubilars (vgl. Altpapier), abgespielt habe. Und nach dem heißesten Eisen der Schwarzer-Kritik, ihrem Engagement für die Bild-Zeitung, fragt Gehringer natürlich:

"Wenn Sie damals die Berichterstattung der 'Bild'-Zeitung als Hetze empfunden haben: Warum haben Sie dann später für das Boulevardblatt geworben und schreiben heute selbst dafür?"

"Oh je. Wenn ich diesen Maßstab anlegen würde, dann dürfte ich für niemanden mehr schreiben. Außer für 'Emma'. Am hämischsten mit den Feministinnen - und allen voran mit mir - war eigentlich immer schon die 'Süddeutsche Zeitung'. Und die 'Frankfurter Rundschau' ortete damals 'Konsumwahn', also Pelzmantel statt Kind, sowie eine 'Vernichtung unwerten Lebens'".

Wer die Tsp.-Talkshow genau liest, erfährt dann auch, dass der heutige Arte-Film gar nicht von Schwarzer gedreht wurde, sondern es vielmehr Autorinnen gibt. Annette Zinkant und Birgit Schulz heißen sie. Aber über Gespräche mit eher unprominenten Filmemachern lassen sich Dokumentationen auf Arte natürlich nicht vorstellen. So funktionieren die Medien nicht.

Bzw. stopp, TAZ-Rezensentin Daniela Zinser sprach tatsächlich mit den Autorinnen. Sie ist vom Film recht begeistert ("ein flammender Appell für die Selbstbestimmung, der den Schwangerschaftsabbruch aber nie verharmlost"), wegen Ausschnitten aus Sendungen, die heute selbst auf 3sat nicht mehr laufen ("Die Frau zwischen Wunschbildern und Wirklichkeit" aus dem Mai 1970), aber auch wegen der Zeitzeugen. Inkl. Schwarzer:

"Es ist beeindruckend und es macht fast wehmütig, sie so zu sehen, wenn man im Hinterkopf ihr Engagement für die Bild-Zeitung im Kachelmann-Prozess hat."

Die TAZ-Infos über Schwarzers Initiatorinnenstatus allerdings bezweifelt die FAZ, in der Eva Berendsen den Film bespricht (S. 31):

"Natürlich kommt auch Alice Schwarzer zu Wort, die als Vorkämpferin der Kampagne gilt und im Film auch so porträtiert wird, obwohl die Aktion damals von vielen Frauengruppen getragen wurde. ... ... Trotzdem hätte es dem Stoff gutgetan, wenn die Regisseurinnen auch auf Differenzen innerhalb der Frauenbewegung geblickt hätten: Schon damals wurde Abtreibung im Zusammenhang mit neuen Reproduktionstechnologien unter Feministinnen kontrovers diskutiert. Bei einer Länge von nur 52 Minuten hätte ein wenig mehr Erzählzeit nicht gestört."

Völlig ungewiss, was Arte oder andere Kultursender, sofern sie dann noch existieren, am 7. Oktober 2050 zeigen werden. Dann wird sich zum 40. Mal eine spektakuläre, ebenfalls im Bild-Stern-Umfeld gestartete Medienaktion einer medienaffinen Vorkämpferin jähren: Freifrau Stephanie zu Guttenbergs "Tatort Internet"-Initiative auf dem Privatsender RTL2 (siehe Altpapier vom 7. Oktober '10).

Gestern kam es zu einem ersten Gerichtsurteil in deren Folge. "1. Sex-Täter verurteilt!", schreit die Bild-Zeitung. Zu drei Monaten auf Bewährung. Weil bekanntlich zu den Kernkompetenzen der Bild-Zeitung zählt, aus Berichten all das herauszufiltern, was ihre Zielgruppe nicht erfahren soll, und daher aus dem bild.de-Bericht (inkl. verpixeltem Verurteilten-Foto) nicht hervorgeht, was der Richter über RTL 2 sagte, empfehlen wir jedoch den sachlicheren Bericht der Süddeutschen:

"Das Gericht vertrat dabei die Auffassung, der Mann sei von RTL2 'in eine Falle gelockt' worden. Richter Andreas Forstner hielt dem 42-jährigen Schlosser zugute, dass er von dem TV-Team 'vorgeführt worden' war. Wenn die Polizei mit Lockvögeln arbeite, sagte der Vorsitzende, sei das schon grenzwertig. Das gelte für einen Sender, der seine Quoten aufbessern wolle, ganz besonders."

[listbox:title=Artikel des Tages[Schwarzer wg. 1971 auf Arte (TAZ)##Gedruckte Schwarzer-Talkshow (Tsp.)##Schwarzer tanzt (TAZ, eher polemisch)##Tatort Internet-Gerichtsurteil (SZ)##Sportschau in Gefahr? (SZ)## Alter Handelsblatt-Käse (allesaussersport.de)##BMW rettet rivva.de (meedia.de)##Das Spielalter der TV-Darstellerinnen (KSTA)]]

Andererseits, demographisch aus der Gegenwart abgeleitet, müsste RTL2 anno 2050 zu den beliebtesten Fernsehsendern überhaupt zählen, zumindest sofern es dann noch Fernsehsender gibt. Davon wiederum kann man scheinbar selbst auf wenige Jahre Sicht kaum mehr sicher ausgehen. Damit rasch noch zum mutmaßlichen Sommerloch-Hit der Medienressorts: der "'Sportschau' in Gefahr" bzw. der Frage nach einem Ende der gerade 50 gewordenen ARD-Sportschau wegen Abwanderung der entsprechenden Fußball-Bundesligarechte ins Internet (vgl. Altpapierkorb bzw Handelsblatt gestern).

Heute bringt in der Süddeutschen Claudia Tieschky auf den Stand, inkl. frischer Zitate des ARD-Sportkoordinators Axel Balkausky (u.a.: "Bei einer Vergabe an einen reinen Internetanbieter wären die Fans in Deutschland die großen Verlierer") sowie der üblichen Standard-Auskunft eines Axel Springer-Sprechers auf alle Anfragen (sich derzeit nicht äußern...), welche die Süddeutsche aber dennoch so in den noch diffusen Kontext einbettet, als könnte man am Ende die Bundesliga auf bild.de verfolgen müssen.

Eher vom Internet her und mit Hilfe des allesaussersport.de-Bloggers Kai Pahl betrachtet TAZ-Sportchef Andreas Rüttenauer die Chose, was aber nicht heißt, dass er sie unaufgeregter betrachtet:

"Eine normale 'Sportschau' wird von 5 Millionen Menschen gesehen. Demnach" - nämlich wenn eine Umfrage zutreffen sollte, derzufolge gegebenenfalls "40 Prozent aller Deutschen die Fußball-Bundesliga über das Internet schauen würden" - "würden 2 Millionen User einem Internetstream folgen, wenn der Vorabendfußball ins Netz wandern würde. Deutschland würde in eine neue Dimension vorstoßen. So viele Menschen haben sich bei einem Sportereignis noch nirgends auf der Welt gleichzeitig einen Stream im Web angesehen."

Und ist so etwas realistisch? Nein, meint Rüttenauer aufgrund von Zuschauerzahlen der bild.de-Übertragung eines spanischen Ligaspiels zwischen Real Madrid und FC Barcelona, welche vor 177.990 Zuschauern "beinahe unter Ausschluss der deutschen Öffentlichkeit" stattgefunden habe. Insofern gelangt er dann irgendwie zum flammenden Appell (an die DFL):

"Politik und Fans werden sich gegen die Wirtschaft verbünden. Und: sie könnten gewinnen - gegen das Internet."

Ähm...: ???? Wir empfehlen vorerst lieber unmittelbar allesaussersport.de, das von "drei Monate altem Handelsblatt-Käse" spricht. Sind aber dennoch gespannt, was morgen Michael Hanfeld dazu schreiben wird.

 


Altpapierkorb

+++ "Gott, hab ich den Dienst vermisst", seufzt Thomas Knüwer, meint damit aber keinen Gottesdienst, sondern das überraschend zurückgekehrte rivva.de. Die Knüwerfollowern bekannte Litanei vom "Rückstand klassischer Medienhäuser" folgt dennoch, nicht zu Unrecht, da die Rückkehr des sympathischen Aggregatoren oder Kuratoren nicht von einem Verlag oder so, sondern von BMW finanziert wurde (vgl. auch meedia.de, TAZ kurz). +++

+++Auch Thema der gedruckten Schwarzer-Talkshow: Henri Nannen, 1971 Stern-Chefredakteur, heute vor allem geläufig als Namenspatron jeies Journalistenpreises geläufig, um den immer noch ein Nischenskandal kreist. Bernhard Pörksen äußert sich dazu auf Carta. Er verteidigt René Pfister, dem der Nannenpreis wiederaberkannt wurde. Er keinen "Fehler der Profession" begangen, sondern nur, als er ihn annahm, "einen Fehler der Performanz". Die Debatte darum deutet Pörksen als "Ausdruck eines fundamentalen Unbehagens in der Casting- und Inszenierungsgesellschaft". Soweit, als Schritt gegen dieses Unbehagen die Abschaffung der Nannen-Bambis zu fordern, geht er jedoch nicht. +++

+++ "Mathieu Carrière rennt aus dem Foyer des Hotels Reichshof in Hamburg, als wäre der Teufel hinter ihm her" - hoffentlich hat sich Hilmar Klute das nicht bloß von Dritten erzählen lassen. Jedenfalls kreist die Seite 3-Reportage, sofern man sie so nennen kann, um den Mann, der "sein eigener Skandal" ist, "die Katastrophen seines Lebens öffentlich" inszeniert - und "vielleicht deshalb manchen Wahnsinn der Fernsehwelt" durchschaut, und der "einmal ein großer Schauspieler" war (siehe auch Altpapier). +++

+++ Tagesthema Apple in der BLZ. "Einer dieser magischen Momente, auf die Apple-Chef Steve Jobs in den Augen seiner Anhänger abonniert ist, blieb nach einhelliger Einschätzung der Beobachter am Montag aus", meint Marin Majica. +++ Achtung, Apple-Aficionados, nicht "den Schlüssel über sein digitales Leben aus der Hand" geben, rät die SZ-Meinungsseite wegen der neuen Cloud. +++ Das Bundesgerichtshofs-Urteil gegen die Verpixelung eines Verurteilten, zugunsten der Bild-Zeitung, erläutert am ausführlichsten die BLZ. +++

+++ Holla! Ein wirklich interessanter Tilmann P. Gangloff-Artikel! Es geht ums Spielalter prominenter TV-Darsteller und -Darstellerinnen. "Christine Neubauer (48) hat sich gut gehalten. Dennoch ist es lächerlich, wenn sie in dem kürzlich ausgestrahlten Drama 'Gottes mächtige Dienerin' die Titelfigur auch als Frau von Anfang 20 verkörperte", aber es geht noch lächerlicher, und Gangloff hat auch dafür Beispiele (KSTA). +++

+++ Verdammt häufig liest man gerade, dass die New York Times über eine 160-jährige Tradition verfügt. Gerade kürzlich, als das Blatt seinen ersten offen schwulen Kolumnisten (TAZ) anheuerte. Und jetzt hat es gar noch eine Chefredakteurin (faz.net). +++ Jetzt auch teilweise schwul: "Bauer sucht Frau". Der Tagesspiegel würdigt diesen Meilenstein nicht ohne noch einmal das prominente Narumol-Zitat "Ich bin fick und fertig" zu verbraten. +++ Ferner fordert ebd. Joachim Huber Claus Strunz auf, sich gefälligst zu steigern. +++

+++ Gute Nachricht für Freunde öffentlich-rechtlichen Qualitätsfernsehens: "ARD-Telenovelas gehen wieder in Sommerpause" (dwdl.de). Wie wär's solange mit einer Sendestrecke für hochwertige Dokumentationen, Volker Herres? +++

+++ Und Gruner + Jahrs Erfolgsrezept, Rekordgewinne zu erzielen, enthüllen die freischreiber.de: pfiffige Ideen auf allen Ebenen zumindest einmal ausprobieren. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.
 

weitere Blogs

Das queere Vereinsleben ist so bunt und vielfältig wie die queere Szene. Aber wie politisch neutral sollten diese Vereine heute (noch) sein?
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten - und wieder einmal die Kirche. Über drei Monate nach der ForuM-Studie.
Traupaar während der Zeremonie in St. Johannis
Am schönen Datum 24.4.24 standen in ganz Bayern Kirchen offen für spontane Segnungen und Trauungen