Mehr München und Facebook

Mehr München und Facebook

Sueddeutsche.de hat aufgeräumt, Ottfried Fischer ist zerknirscht, ARD und ZDF geben sich sportlich und "Claudius Seidl" avanciert zum Gegenpapst all unserer Hoffnungen auf eine bessere Welt.

Sueddeutsche.de hat seine Seite überarbeitet. Servicefreundlich, wie solche Vorgänge heute begleitet werden, gibt zum so genannten Facelift auch Erklärungen. Etwa in Form eines Videos, das mit drastischer Musik und einer Sprecherinnenstimme, die die Seriosität des Deutschlandfunks nur knapp verfehlt.

Was jetzt neu ist? Sehen Sie selbst. Meedia.de hat außerdem die erste Kritik Absichtserklärung der neuen Seite eingestellt. Was von dem Film hängen bleibt: "Mehr München und Facebook", was, wenn wir nicht so viel Angst vor der Nadel hätten, wir uns umgehend als Motto auf die Brust tätowieren lassen würden. Und: das Wort "aufgeräumt".

Aufräumen bezeichnet unsere Tätigkeit hier ja irgendwie auch. Deshalb rasch weiter. Der Zustand von Ottfried Fischer ist dagegen mit dem Wort zerknirscht zu beschreiben. Der "Bild"-Reporter Wolf-Ulrich Sch. wurde in zweiter Instanz vom Vorwurf der Nötigung freigesprochen, den Schauspieler mit einem Video, das ihn mit Sexarbeiterinnen zeigte, zur Kooperation erpresst zu haben.

Springers heißes Blatt feiert naturgemäß einen Sieg für die Pressefreiheit. In dessen eigenen Worten:

"Freispruch erster Klasse!"

Oder auch:

"Böse Blamage für "Otti" Fischer (57, 'Pfarrer Braun')."

Ob dagegen diese Aussage stimmt, kann vermutlich weder das Bildblog noch der nächste Bild kritische Spiegel-Titel erklären, das muss ein höherer Richter entscheiden:

"Unfassbar: Obwohl der Reporter sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, verurteilte das Amtsgericht München den Reporter!"

Man könnte sagen, so läuft's. Beim Thema Zensur, gerade wenn es fern von hier bearbeitet wird, stellt man sich ja auch immer den Parteisekretär vor, der den Journalistentext zusammenstreicht wie ein schlechtgelaunter Redakteur die erste Arbeitsprobe des Praktikanten. Dabei funktioniert die so genannte Zensur im richtigen Leben vermutlich ganz anders.

Und so findet man in den Berichten zum Prozess eben auch Hinweise darüber, wie man sich das Tagesgeschäft der Bild-Zeitung vorstellen muss. Christian Rost schreibt in der Printausgabe der SZ:

"Wenn jemand Fischer gedroht habe, sagte Hemmerich (die zuständige Richterin, AP) nun, dann dessen ehemalige Presseagentin. Die Frau, die enge Bild-Kontakte pflegt, erfuhr, dass S. sich das Video besorgt hatte. Sie schlug Alarm, erklärte Fischer, seine Karriere wäre zu Ende, wenn der Film veröffentlicht würde - und drängte ihn zur Kooperation mit Bild."

Der zugehörige Text in der Berliner schließt mit den Worten, die zugleich die Schwierigkeiten des Versuchs beschreiben, qua Justiz die "Blöd-Zeitung" (Ex-Tatort-Kommissar Paul Stoever) zu kritisieren:

"Doch wenn Fischer keine Beweise oder Zeugen beibringen kann für seine Behauptung, der damalige Bild-Mitarbeiter habe ihn vor dem Interview unter Druck gesetzt, wird es auch im nächsten Prozess schwer für ihn. Dass er diesen Druck spürte, reicht ganz offenbar nicht aus."

Vielleicht sollten wir eine Facebook-Gruppe gründen: "Claudius Seidl als Richter im Fischer-Prozess" oder gleich "Claudius Seidl als Bild-Chefredakteur". Denn "Claudius Seidl" ist gerade im Begriff, zur Chiffre für die Hoffnungen auf eine bessere Welt zu werden.

Auch wenn die Unterstützergruppe bei Facebook für Seidls Kandidatur als ZDF-Intendant gerade 1.587 Supporter hat und man sich Bastler vorstellen kann, die einen gewiefteren Werbespot für Seidls ZDF-Kritik (siehe etwa Altpapier von gestern) gemacht hätten. Die Branche ist begeistert – wie das Meedia.de-Interview und Christian Schlüters von Bewunderung und Trittbrettfahrermobilisiertheit durchdrungener Kommentar in der FR zeigen:

"Feierlich begrüßen wir Claudius Seidl als unser neues Vorbild. Und erklären hiermit – genauso wie der großartige Feuilletonchef der großartigen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung – unsere Gegenkandidatur zu Thomas Bellut bei der Wahl des ZDF-Intendanten. Wir sind zwar nur ein kleines schwaches Times Mager, das sich nicht einmal traut, als heroisches Ich aufzutreten und sogar auf einer eigens dafür eingerichteten Facebook-Seite ('Claudius Seidl als ZDF-Intendant') kulturkämpferische Posts zu hinterlassen."

Noch eine Baustelle, auf der "Claudius Seidl" als Gegenpapst und Sachverständiger einer Architektur der Vernunft auftreten könnte: das Netzwerk-Recherche. Wolfgang Michal hatte sich schon vor zwei Tagen auf Carta über die Vereinigung amüsiert:

"Prof. Dr. Thomas Leif und seine Mitstreiter haben in nur zehn Jahren ein Journalisten-Imperium aufgebaut, das einen wirklich staunen lässt. Aus dem kleinen Verein 'Netzwerk Recherche' ist eine einflussreiche NGO mit nahezu gouvernementalen Zügen geworden, eine Führungsakademie für Journalistik."

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Ottfried Fischer als einziger Zeuge seiner selbst (Berliner)##Times Mager will auch ZDF-Intendant werden (FR)##Claudius Seidl for Netzwerk-Recherche-Vorsitz (Carta)##Die Hausse der Sportblogs (Berliner)##]]

Wobei uns Diedrich Diederichsen demnächst vielleicht noch mal erklären könnte, wie dieser popkulturelle Twist im Selbstverständnis zu bewerkstelligen ist: sich als Antidot gegen die Restauration auszugeben, die man selber ist.

Damit irgendwie verbunden: 50 Jahre Panorama. Wurde auch schon an anderer Stelle gewürdigt (siehe Altpapier vom Freitag). Heute gratuliert die SZ noch einmal. Und Claudia Tieschky kommt zu dem nachdenklich stimmenden Schluss:

"Im Film gibt es diese Szene, in der Reporter Christoph Lütgert seine Empörung über Maschmeyer in die Kamera spricht: 'Das ist ein Zynismus....' Lange und ernst schüttelt er den markanten Kopf. Nach der Sendung sagten natürlich alle: Gott, Lütgert, wie eitel. Aber jetzt sieht man auch im ZDF wieder öfter Reporter vor der Kamera. Was Lütgert abzog, war ganz alte Panorama-Schule. Zieht noch."

Nichts für ungut, aber wenn das ethisch fragwürdige ("Jagd auf Egon Krenz") Schmierenkomödiantentum von Lütgert "ganz alte Panorama-Schule" sein soll, dann möchten wir von dieser Form des Traditionsbewusstseins lieber verschont bleiben.

Claudius Seidl for Christoph Lütgert!


Altpapierkorb

+++ "Zumindest an der FAZ-Medienseite liegt's nicht, wenn es an der Thematisierung hapert. Sie thematisiert das Problemumfeld an ungefähr jedem zweiten Tag", hieß es im Altpapier vom letzten Mittwoch zur Kritik der Fußballobsession bei ARD und ZDF. Und tatsächlich tut Michael Hanfeld in der FAZ (Seite 33) auch heute, was Michael Hanfeld tun muss: "Für geschätzte 180 Millionen Euro haben sie die Senderechte an den Spielen der Frauen- und der Herrenfußballnationalmannschaft erworben, die Rechte an der Ausstrahlung der Spiele der 3. Liga und der Frauen-Bundesliga – bis zum Jahr 2016." Weil da demnächst noch andere Rechte auf dem Spiel stehen, liest Hanfeld den Kauf als Investition in die künftige Verhandlungen: "Insofern war es ganz geschickt von ARD und ZDF, jetzt schon einmal alles zu kaufen, was da ist." +++ Wer von der Breite des sportiven Grundversorgung bei ARD und ZDF überfordert ist – Hanfeld: "Bis zu hundert verschiedene Sportarten könnten die Fans bei den Öffentlich-Rechtlichen sehen und hören, sagte die WDR-Intendantin Monika Piel anlässlich des aktuellen Fußballrechtekaufs. Dabei wissen alle, dass es hier nicht um die neunundneunzig anderen Disziplinen neben dem Fußball, sondern vor allem um diese eine geht" –, kann sich an der Hausse der Sportblogs erfreuen, über die Sarah Mühlberger in der Berliner berichtet. +++

+++ Einhelliges Lob für den Odenwaldschulfilm "Wir sind nicht die Einzigen", der heute abend auf 3sat ausgestrahlt wird. Tanjev Schultz in der SZ: "Das hätte ein voyeuristischer, ein nicht nur schwieriger, sondern ein schmieriger Film werden können. Entstanden aber ist das sensible Dokument eines Martyriums." +++ Thomas Gehringer in TSP und KSTA: "Obwohl hier auch peinliche Details offenbart werden, ist der Film alles andere als voyeuristisch." +++

+++ Zufrieden fallen die Reaktionen auf Monica Lierhausens ersten Auftritt als Gesicht der ARD-Fernsehlotterie aus, wie der Tagesspiegel zusammengetragen hat. +++ Die TAZ empfiehlt einen Arte-Film, der Somalia als Giftmüll-Resort zeigt (heute, 20.15 Uhr). +++

+++ Stefan Niggemeier hat im Bildblog Übersetzungsschwierigkeiten aus der englischen Wikipedia für eine Perp-Walk-Kulturgeschichte in der SZ ausgemacht. +++ Dwdl.de bringt uns schonend bei, dass bei Sat.1 jetzt wirklich alles wieder kommt. +++ Rainer Wandler berichtet von einem kritischen und satirischen Portal in Marokko (TAZ). +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.
 

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