Das wahre Public Viewing

Das wahre Public Viewing


Heute im Fokus: Analysen von Fotos aus dem Weißen Haus und Meta-Berichterstattung in Sachen Bin Laden.


Der Trend, journalistische Inhalte immer spielerischer zu vermitteln, ist auch in der Berichterstattung rund um Osama Bin Ladens Tod spürbar. Next Media Animation, ein in Taipeh ansässiges Trickfilmstudio, produziert täglich Newsclips, die sich im Netz schnell verbreiten. Nun hat man die Geschichte von Bin Ladens twitterndem Nachbarn auf die Schippe genommen (siehe auch Screenshot).

 

Auf eine andere Art von spielerischem Zugang setzt die New York Times mit einer Infografik, auf der die Bandbreite der emotionalen Reaktionen von US-Bürgern auf Bin Ladens Ende in Form von Punkten und Schatten dargestellt ist. 

Die hiesigen Medienbeobachter fokussieren sich heute auf die Fotos, die entstanden sind, als die Nomenklatura des Weißen Hauses der Aktion gegen Bin Laden beiwohnte. Marcus Jauer analysiert im FAZ-Feuilleton eines der Bildmotive:

„Am Kopf des Tisches, dort also, wo in der Familie der Platz des Vaters wäre, sitzt der einzige Militär im Raum (...) Er ist auch der Einzige, der auf seine Hände schaut (...), während alle anderen Personen nach vorn sehen auf eine Leinwand, die nicht mehr Teil des Bildes ist. Das Foto verrät nicht, was auf ihr passiert, es zeigt nur den Eindruck, den es auf den Gesichtern hinterlässt. Da sind die ewigen Abteilungsleiter, die mit vor der Brust verschränkten Armen mit derselben Miene dieser Hinrichtung beiwohnen, mit der sie an anderen Tagen die Vorschläge des neuen, engagierten Kollegen quittieren. Nein, nicht etwa desinteressiert, nur abgeklärt. Ob sie nun Vizepräsident sind und Joe Biden heißen oder Robert Gates und Verteidigungsminister sind, sie bleiben auch in diesem Moment ganz Teil einer Organisation, die schon vieles gesehen hat und nun eben auch das.“

Eine sportbegrifflich aufgeladene Analyse liefert die Berliner Zeitung:

„Was auf den ersten Blick so aussieht wie eine Bürogemeinschaft, die sich zur Fernsehübertragung eines entscheidenden Baseballspiels versammelt hat, dürfte das wohl verschworenste Kollektiv sein, das sich je zu einer Art Public Viewing getroffen hat. Sofern bei einer Runde in einem streng abgeschirmten Kellerraum von Public überhaupt die Rede sein kann. (...) Es ist eine Bürogesellschaft, die sich zu einer Art Endspiel von historischer Bedeutung versammelt hat. Verteidigungsminister Robert Gates und Vizepräsident Joe Biden flankieren die Szene im Stil routinierter Sportmanager. Das Match ist noch nicht gelaufen, scheinen die verschränkten Arme von Gates zu sagen. (...) Obama trägt passend dazu ein sportliches Blouson. Leicht nach vorn gebeugt wirkt er wie jemand, der bereit ist, jeden Moment eingewechselt zu werden.“

Hatte das, was sich da im „abgeschirmten Kellerraum“ abspielte, nun etwas mit Public Viewing zu tun? Durchaus - wenn man bedenkt, dass „Public Viewing“ im Englischen eigentlich Leichenschau bedeutet, also rein gar nichts mit der Rudelbildung vor einer Großleinwand zu tun hat, und Obama und Co. ja vor allem eine Leiche sehen wollten, als sie sich vor ihrer Leinwand versammelten.

Spiegel Online erläutert die Arbeit des Kollegen, dem wir die Impressionen aus dem kleinen Kreis verdanken:

„‘White House Photographer‘, so der offizielle Arbeitstitel, schießen Bilder für die Ewigkeit, nicht für die nächste Ausgabe. Sie sollen eine Präsidentschaft für die Ewigkeit inszenieren, sie arbeiten schließlich für den Präsidenten.“

Das „deutsche Zartgefühl für einen Massenmörder“ geißelt Clemens Wergin (Welt Online), als allzu zartfühlend stuft er beispielsweise den für das „deutsche Staatsfernsehen“ kommentierenden Jörg Schönenborn ein. Wergin missfällt auch, dass dieser den Begriff „Hinrichtung“ verwendet (mit dem ja, siehe oben, die dem Springer-Blatt ideologisch gar nicht so ferne FAZ kein Problem hat):

„Die deutsche Medienreaktion unterscheidet sich jedenfalls auf eklatante Weise von den Äußerungen der Bundesregierung zum Tod Bin Ladens. In der WDR-Sendung ‚Politikum‘ wird der Terrorfürst gar zum ‚54-jährigen Familienvater‘ stilisiert, damit diese unzivilisiert jubelnden ‚Amis‘ besonders schlecht aussehen.“

Nein, diese Öffentlich-Rechtlichen! Jetzt schrecken sie nicht einmal mehr vor der Stilisierung zu Familienvätern zurück. Den erschöpfendsten Meta-Text zur Bin-Laden-Berichterstattung („Bin Laden Reading Guide: How to Cut Through the Coverage“) gibt es bei ProPublica.

[listbox:title=Artikel des Tages[Bin Laden Reading Guide (ProPublica)##"Eine Art Endspiel von historischer Bedeutung" (Berliner Zeitung)##Christoph Waltz hat seine Unschuld verloren (taz)]]

Weil „Reporter ohne Grenzen“ gerade „Die Liste der ‚Feinde der Pressefreiheit'“ veröffentlicht hat (siehe auch Altpapier von gestern) spricht Joachim Huber für den Tagesspiegel mit Astrid Frohloff, der Sprecherin der Organisation - unter anderem über die Folgen der „Gärungsprozesse“ (Huber) in beispielsweise Tunesien und Ägypten. Frohloff dazu:

"Die Übergangsregierungen in beiden Ländern sind recht zügig dabei, zivilgesellschaftliche Strukturen aufzubauen. In Tunesien wird z.B. an einer neuen Verfassung erarbeitet, in die auch die Meinungsfreiheit mit aufgenommen werden soll. Eine Lizenzbehörde wird gerade geschaffen, die neuen Zeitungen und Sendern Genehmigungen erteilen soll. Es gibt aber noch viele Fesseln: Einige Themen wie Korruption oder Militär sind nach wie vor Tabu bei den Journalisten. In Ägypten wurden die Chefredakteure einiger staatlicher Zeitungen ausgetauscht, aber viele alte regimetreue Chefs sitzen noch auf ihren Posten.“

Keinerlei Pressefreiheit gibt es derzeit in Syrien, wo seit Freitag die Al-Jazeera-Journalistin Dorothy Parvaz vermisst wird. Aufrufe zur Freilassung hier und hier.

Dass es um die Pressefreiheit in Deutschland nicht gut bestellt sei - darauf weist unermüdlich der Hamburger Gerichtsreporter Rolf Schälike hin. Aus Protest gegen die rigide, wenig pressefreiheitsfreundliche Urteilspraxis hiesiger Pressekammern geht er nun mal wieder ins Gefängnis. Der Hintergrund ist nicht unkomplex, am besten steigt man wohl mit einem Blogbeitrag des Medienrechtsspezialisten Markus Kompa ein:

„Der inzwischen strafrechtlich verurteilte Börsenguru Herr Markus Frick hatte am Landgericht Berlin eine einstweilige Verfügung gegen Herrn Schälike erwirkt, der daraufhin eine Unterlassungsverpflichtungserklärung abgegeben hat. Diesbezüglich konnte Fricks Anwalt wegen angeblichem Verstoß ein Ordnungsgeld in Höhe von 500,- Euro durchsetzen. Dickschädel Schälike zahlt natürlich nicht, sondern macht stattdessen fünf Tage Erlebnis-Urlaub in der (...) Haftanstalt Holstenglacis. Diese genießt unter Kennern keinen guten Ruf, doch als Herr Schälike vor über fünf Jahren schon einmal da war, fand er es im Vergleich zum Stasi-Knast dort gar nicht so übel. Er saß übrigens schon damals freiwillig statt Geldzahlung, weil er eine Unterlassungsverfügung des anfangs erwähnten freundlichen Mannes angeblich nicht ausreichend genug beachtet hatte.“

Demokratiedefizite gibt es hier zu Lande auch im Radiobereich. „Rückständig“ sei Deutschland im Umgang mit „privaten nicht-kommerziellen Radios“, jedenfalls verglichen mit Großbritannien, Argentinien und den USA, schreibt Ralf Hutter (freitag.de):

„Während in anderen Zusammenhängen ständig die Rede ist von Web 2.0 und Facebook-Revolutionen, von Whistleblowern und Leserreportern, verwalten die meisten Bundesländer ihr Monopol über die Radiofrequenzen zum Schaden der Öffentlichkeit. Sie behindern eine aktive Beteiligung des Volkes.

Und das, obwohl doch „der mit viel Geld ausgestattete öffentlich-rechtliche Rundfunk journalistisch eine Lücke“ lässt für die privaten nicht-kommerziellen Radios, denn „eine umfassende Lokalberichterstattung kann (und will) er nicht leisten“. Über Verbesserungsmöglichkeiten an einer anderen medienpolitischen Front berichtet Claudia Tieschky (Süddeutsche) anlässlich einer Bildungsreise, die einige deutsche Medienstrategen neulich in Sachen „Public Service Broadcasting“ nach Großbritannien unternahmen. Dabei geht es um „Privatsender, die nicht nur Kommerzinhalte produzieren, sondern sich einem gesellschaftlichen Auftrag verpflichten“:

„Das System stößt in Deutschland auf Interesse, wo man bisher nur zwei Sorten TV kennt: privates und öffentlich-rechtliches. Mit Zertifizierungen, wie sie etwa in der mittelständischen Wirtschaft längst praktiziert werden, könnte auch das deutsche Rundfunkmodell umgebaut werden - und eine dritte Sorte TV entstehen: Privatsender, die sich auf einen besonderen gesellschaftlichen Beitrag verpflichten, würden ein Gütesiegel erhalten - und Vorteile.“


Altpapierkorb

+++ Aus dem TV-Programm ragt heute „Die Kriegstreiber von nebenan. Deutschland und der Terror im Kongo“ (ARD) heraus. Der Tagesspiegel übt aber auch Kritik an dem Film, in dem es unter anderem um das Thema Coltan geht: „Ohne Edelmetalle wie Coltan wäre die elektronische Industrie in Europa womöglich zusammengebrochen. Dies ist in groben Umrissen bekannt, aber die Autorin Susanne Babila wirft die Frage auf, ob deutsche Unternehmen wissen, wie viel Blut am Importgut klebt. Die Antwort bleibt offen. Dieser brisante Film musste sich darauf beschränken, teils vorgefundenes, teils neues Material aneinander zu reihen“ (siehe auch FAZ, S. 31). In ein paar Monaten täglich im Fernsehen kommt Wiso plus.

+++ Warum bringt Christian Jakubetz das neue Journalismuslehrbuch „Universalcode“ heraus? Weil „die ganzen Entwicklungen, die es seit 1995 im Journalismus gibt, in vielen Standardwerken nicht vorkommen“ (drehscheibe.org)

+++ Ein Hauen und Stechen könnte es heute zwischen den Journalistengewerkschaften und Verlegerverbände geben: Die Fortsetzung der Tarifrunde für Redakteure bei Tageszeitungen auf dem Programm. Frank Werneke, der Verhandlungsführer von ver.di, betont im Interview mit dem Neuen Deutschland, die Tageszeitungen hätten bereits „in den letzten zehn Jahren in enormem Umfang Kosten reduziert (...) Nach den uns vorliegenden Zahlen wurden die Umsatzverluste durch Personalabbau deutlich überkompensiert. (...) Es ist sicherlich nicht mehr so, dass das Herausgeben einer Zeitung eine Lizenz zum Gelddrucken ist, wie es noch in den 70er bis 90er Jahren war. Trotzdem schreiben die Zeitungsverlage schwarze Zahlen. Es gibt keine wirtschaftliche Not, die Tarifabsenkungen rechtfertigt.“

+++ Silke Burmester gegen Cherno Jobatey: Die Kriegsreporterin der taz will auf ihrer Facebook-Seite mehr „Gefällt mir“-Clicks generieren als der berüchtigte Schwerdenker vom ZDF, der in dieser Hinsicht als bisher der erfolgreichste Journalist bzw. „Journalist“ (Burmester) gilt. In der taz steht heute auch, dass Christoph Waltz nicht mehr cool ist. Er ist jetzt nämlich Telekom-Model. Lange recht ruhig war es um die Wahrheit-Seite der taz, jetzt gibt es aber endlich mal wieder Zoff: Migrantenverbände protestieren gegen eine Glosse über den König von Swasiland. Die Reaktion aus der Chefetage fasst Welt Online so zusammen: „Es gebe in der Chefredaktion und im Satireressort des Blattes unterschiedliche Auffassungen zu der Glosse, die geklärt werden müssten.“

+++ Zum Schluss etwas sehr Positives; „Der Journalismus im Internet erhält Auftrieb“ - auf alle Fälle gilt das für die Schweiz, meint die NZZ, die eine Übersicht über die optimistisch stimmenden Projekte bereit hält.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

 

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