TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Der Ort, von dem Wolken kommen" (ARD)

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TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Der Ort, von dem Wolken kommen" (ARD)
15.9., ARD, 20.15 Uhr
"Polizeiruf"-Krimis aus München waren immer etwas Besonderes; zunächst mit Edgar Selge als einarmigem Ermittler, zuletzt mit Matthias Brand als leicht cholerischem adligem Hauptkommissar, den stets eine gewisse intellektuelle Melancholie umwölkte. Den Geschichten über Hanns von Meuffels war ohnehin anzusehen, dass die Fernsehfilmredaktion des Bayerischen Rundfunks keine der üblichen Sonntagskrimis im Sinn hatte. Das gilt auch für den ersten Auftritt der Österreicherin Verena Altenberger, selbst wenn der Titel zunächst deutlich ungewöhnlicher klingt, als die Handlung zu sein scheint.

Die Polizei greift einen verwahrlosten Teenager auf, der jahrelang gefangen gehalten worden ist; sein Körper weist zudem Spuren ständiger Misshandlung auf. Elisabeth Eyckhoff, für Freunde Bessie, ist Oberkommissarin im uniformierten Streifendienst und nimmt sich des Jungen an. Er ist ungefähr 15, nennt sich selbst Polou und sagt ansonsten nicht viel. Aus seinen Andeutungen schließt die Polizistin, dass noch weitere Kinder sein grausiges Schicksal teilen. Psychologin Kutay (Katja Bürkle) schlägt vor, Polou zu hypnotisieren, was die zuständige Sachbearbeiterin vom Jugendamt wegen der Gefahr einer Retraumatisierung jedoch nicht zulässt. Eyckhoff und Kutay setzen sich über das Verbot hinweg, und jetzt wird die Geschichte interessant: Die Psychologin versetzt die Polizistin ebenfalls in Trance und bringt die beiden Seelen in Einklang, sodass Bessie quasi gemeinsam mit Polou durch dessen Erinnerungen wandern kann.

Die Reise führt in einen Abgrund menschlicher Grausamkeit; Polous Seelenwelt ähnelt mit ihren bizarren Einfällen den Romanen von Stephen King. Nun offenbart sich auch die tiefere Bedeutung von Polous scheinbar sinnlosen Zeichnungen. Als Bessie seine Erinnerungen zum zweiten Mal aufsucht, kommt es zu dem verblüffenden Effekt, dass sie sich selbst späht, und zwar just an jenem Ort, dem der Film seinen Titel verdankt: Eine der Zeichnungen Polous besteht größtenteils aus einer schwarzen Fläche. Nur oben in der Ecke hat er Platz gelassen für den "Ort, von dem Wolken kommen": eine kleine Lücke im ansonsten abgeklebten Fenster seines Kerkers.

Schon der Name des Regisseurs steht für herausragende Qualität: Florian Schwarz hat mit dem Grimme-preisgekrönten Shakespeare-Western "Im Schmerz geboren" (2014), ein "Tatort" mit Ulrich Tukur, einen der besten ARD-Sonntagskrimis der letzten Jahre inszeniert. Meist arbeitet er mit Michael Proehl zusammen, wie auch bei "Das weiße Kaninchen" (2016), einem mit allen wichtigen Fernsehpreisen ausgezeichneten Krimidrama über sinistre Verführer im Internet. Die Kooperation des Duos erstreckt sich auch auf Vorlagen anderer Autoren (bei "Das weiße Kaninchen" Holger Karsten Schmidt). Das ursprüngliche "Polizeiruf"-Drehbuch stammt von Thomas Korte; vermutlich bestand Proehls Aufgabe darin, es in Schwarz’ Sinn zu bearbeiten.

Der Film bietet eine reizvolle Kombination üblicher Krimi-Zutaten mit überraschenden Elementen. Die düstere Bildgestaltung (Julian Krubasik) sorgt mit ihrem eindrucksvollen Farbenspiel dafür, dass "Der Ort, von dem die Wolken kommen" auch optisch aus dem Rahmen fällt. Weite Teile der Handlung spielen sich im abgesperrten und daher wie ausgestorben wirkenden Teil der Klinik ab, in dem Polou untergebracht ist. Schwarz hat einige Alptraumszenen im Stil von Horrorhospital-Schockern inszeniert; es gibt tatsächlich einen Moment, der einem nicht zuletzt dank des Musikeinsatzes (Florian van Volxem) das Blut in den Adern gefrieren lässt. Aber es existiert auch eine konkrete Bedrohung: Eine rätselhafte Fremde ist offenbar bereit, über Leichen zu gehen, um Polous Herkunft zu vertuschen.

Ganz vorzüglich ist zudem die Arbeit mit den Schauspielern. Dennis Doms hat als Polou nicht viel Dialog, spielt den Jungen aber mit hoher Intensität. Wichtiger aber ist natürlich die Hauptfigur. Bessie, sympathisch und empathisch, ist eine Art Gegenentwurf zu Hanns von Meuffels, hat jedoch ebenfalls ihre Ecken und Kanten, selbst wenn auf den ersten Blick nichts darauf hindeutet. Dass sie als "Streifenhörnchen" arbeitet, obwohl sie für den höheren Dienst qualifiziert wäre, und bei Beförderungen stets übergangen wird, hat natürlich seinen Grund, wie ein Vorgesetzter am Ende schmerzhaft erfahren muss. Verena Altenberger ist dem deutschen Fernsehpublikum vor allem als Titeldarstellerin der komischen RTL-Serie "Magda macht das schon!" bekannt und hat unter anderem in dem österreichischen Drogendrama "Die Beste aller Welten" (2017) gezeigt, welch’ exzellente Schauspielerin sie ist. Ob das auch für die Kollegen um sie herum gilt, muss sich noch zeigen, weil die Rollen nicht viel Spielraum lassen. Bei Cem (Cem Lukas Yeginer) zum Beispiel hatten die Autoren offenbar das Bedürfnis (oder den Auftrag), eine Figur zu schaffen, die allen Klischees türkischstämmigen Krimipersonals widerspricht: Cem lebt praktisch von Süßigkeiten, ist entsprechend korpulent und schwul. Irgendwann stellt sich raus, dass er Bessies Halbbruder ist; außerdem bilden sie eine Wohngemeinschaft. Was bei RTL als Basis für eine Comedy-Serie reichen würde, verschafft der ansonsten reichlich finsteren Geschichte immerhin ein paar heitere Momente.