Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war ein Augenmensch. Das sagte er selbst über sich. "Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt faßte", schrieb der Dichter in seiner Autobiografie "Dichtung und Wahrheit". Und auch wenn Goethe als Schriftsteller Weltruhm erlangt habe, habe er selbst seinen Zeichnungen eine gleichberechtigte Bedeutung zugemessen, sagt der Kustode der Graphischen Sammlungen mit Schwerpunkt Goethezeit der Museen der Klassik Stiftung Weimar, Christoph Orth.
Rund 2.500 Zeichnungen, Illustrationen und Skizzen Goethes gehören zu den Sammlungen der Klassik Stiftung Weimar. Das sind etwa 90 Prozent des Gesamtbestands der Goethe-Zeichnungen. In einem Forschungsprojekt, gefördert von der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Hermann Reemtsma Stiftung, wird der zeichnerische Nachlass aktuell neu untersucht.
Goethe habe aus unterschiedlichsten Gründen gezeichnet, sagt Kunsthistorikerin Mira Claire Zadrozny, die derzeit die Zeichnungen seiner Schweiz-Reise von 1775 analysiert. Auf deren Rückseiten finden sich exakte Datums- und Ortsangaben, die sich mit seinen Tagebüchern verbinden lassen.
Naturwissenschaftliche Studien
Andere Blätter stammen aus seinen naturwissenschaftlichen Studien, erklärt die dritte Kunsthistorikerin des Forschungsprojekts, Laura Lisa Beier. In einer Skizze mit Schädeln eines Halbaffen, einer Katze und eines Hundes visualisierte Goethe seine Forschungen zum Zwischenkieferknochen. Kleine Einstichlöcher zeugen davon, dass er viele Zeichnungen an seinem Pult fixierte, während er beispielsweise seine wissenschaftlichen Studien verfasste.
Goethes Themen sind so vielfältig wie seine Interessen: Landschaften, Architektur, Porträts, Körperstudien und Rekonstruktionen antiker Bauten finden sich in seinem Nachlass. Überliefert ist auch der Entwurf des Treppenhauses seines Wohngebäudes am Frauenplan in Weimar, ebenso Bühnenbilder, Wolkenstudien und Felsformationen. "Goethes Zeichnungen eröffnen uns heute einen unmittelbaren Blick in seine Gedanken- und Bilderwelt", sagt Orth.
Zeichnete seit frühester Jugend
Goethe zeichnete seit frühester Jugend. Aufgewachsen in einem kunstsinnigen Haushalt, erhielt er in Frankfurt Unterricht beim Zeichenmeister Johann Michael Eben (1716-1761). Später setzte er in Leipzig und Weimar die Ausbildung fort. Schon früh erkannte der spätere Dichter, dass ihm, um ein wirklich bedeutender Künstler zu werden, das Talent fehle. "Ich hatte von Kindheit auf zwischen Mahlern gelebt", schrieb er in Dichtung und Wahrheit, "und ich fing an auf die ungeschickteste Weise nach der Natur zu zeichnen. Es fehlte mir hierzu nichts weniger als alles."
So vernichtend fällt das Urteil von Christoph Orth nicht aus. "Goethe war stilistisch vielseitig bewandert, seine technische Ausführung exakt und in der Komposition geschult." Ein Entwurf für die Bühnendekoration zur "Zauberflöte" von 1794 verweise bereits auf die spätere, aber ungleich berühmtere Darstellung des Themas von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841).
Bemerkenswert sei etwa auch, wie es Goethe gelinge, in manchen seiner Landschaftsdarstellungen geologische Strukturen so detailliert auszuarbeiten, dass sie damit gleichzeitig zu wissenschaftlichen Studienzeichnungen werden. Solche Blätter - wie etwa die Felsformation von Mönch und Nonne vor der Wartburg - belegten die Vielseitigkeit von Goethes Interessen in einer Zeichnung.
Das Forschungsprojekt läuft noch bis 2028. Die Zeichnungen wurden bereits digital erfasst. "Nun geht es darum, den Bestand neu zu bewerten und einzuordnen", sagt Orth. Das letzte grundlegende Werk, Gerhard Femmels zehnbändiges "Corpus der Goethezeichnungen", ist über 50 Jahre alt. "Seither gibt es viele neue Erkenntnisse." Und noch immer lasse sich Verborgenes finden, etwa Wasserzeichen, die Rückschlüsse auf Goethes Papierbestellungen und die Nutzung einzelner Bögen für mehrere Zeichnungen erlauben.


