Wie ist es, als Jude in Deutschland zu leben?

Junger Mann mit Kippa an der S-Bahn
Getty-Images/iStockphoro/coldsnowstorm
Wie fühlt sich der Alltag eines jüdischen Menschen in Deutschland an?(Symbolbild)
Nach Attentat am Bondi Beach
Wie ist es, als Jude in Deutschland zu leben?
Wenige Tage nach dem Attentat auf eine jüdische Chanukka-Feier am Bondi Beach in Sydney spricht evangelisch.de-Redakteurin Katrin von Bechtolsheim mit Arie R., einem jüdischen Freund aus Frankfurt. In einem sehr persönlichen Interview berichtet Arie, wie sich sein Leben als Jude in Deutschland verändert hat und was ihm Hoffnung macht.

evangelisch.de: Das Attentat in am Bondi Beach in Sydney steckt uns allen noch in den Knochen. Was löst das bei Dir aus?

Arie R.: Es löst bei mir große Trauer aus. Trauer, weil Menschen angegriffen wurden, die einfach nur ein Chanukka Fest feiern wollten. Ein Fest mit so viel Symbolik, mit so viel Licht nach außen. Das einzige Fest, bei dem man sich im Judentum nach außen hin zeigen soll, die anderen Feste werden alle innen gefeiert. An Chanukka will man Leuten zeigen, wir sind Juden und wollen ein Licht nach draußen tragen, ein Licht der Hoffnung und eigentlich ein Licht der Liebe und Verständigung. Und genau das wird dann symbolisch zertreten.

Es macht mir Angst, weil man sich nicht mehr im öffentlichen Raum treffen kann, selbst bei so einer Feier. Und das alles vor dem Hintergrund von vielen Attentaten und Hass in Australien. Die Zeichen waren schon vorher an die Wand geschrieben. Es macht mich wirklich traurig, an so einem Tag so etwas zu hören, wo man einfach an nichts anderes denkt, als fröhlich zu sein und diese Kerze anzuzünden. Es ist so, als wenn man auf einen Weihnachtsmarkt geht,  wie in Berlin auf den Breitscheidplatz, und dann wird in diese Symbolik zerstörerisch reingefahren.

Du bist oft in Tel Aviv. Wie nimmst Du die Reaktion der Menschen dort wahr?

Arie: Ich habe einige Anrufe bekommen von Israelis, die sich Sorgen machen. Also Israelis machen sich jetzt Sorgen um Juden im Ausland. Eigentlich gibt es mehr Attentate in Israel, und jetzt machen sich diese Leute Sorgen, dass die Menschen, die sich als Juden zu erkennen geben oder mit Judentum zu tun haben, gefährdet sind, egal wo. Ob Australien oder USA oder Deutschland oder Spanien, wo auch immer. Die Juden, die im Ausland leben, das sind alles keine Israelis. Wichtig! Das sind Juden, die vielleicht noch nie in Israel waren oder keinen israelischen Pass haben. Und da machen sich die Israelis jetzt Sorgen und sagen: Mein Gott, so weit ist es gekommen.

Ist diese Sorge gerechtfertigt? Wie erlebst Du das bei Dir und bei Deinen Freunden hier in Frankfurt?

Arie: Ich bin kein ängstlicher Jude, nie gewesen. Ich bin auf jeder Demonstration und zeige Solidarität, wo andere sich vielleicht nicht hin trauen. Aber ich muss sagen, es ist jetzt das erste Mal, wo ich mir anfange, Gedanken zu machen. Ich will niemanden unter Generalverdacht stellen, es ist aber einfach eine Angst. Wenn mich ein Taxichauffeur zum Beispiel fragt, wo fliegen Sie denn hin, traue ich mich nicht mehr zu sagen, dass ich nach Israel fliege. Oder wenn ich in einem Handy-Laden bin und gefragt werde, was das für eine ausländische Nummer ist. Dann traue ich mich nicht zu sagen, dass es eine israelische Nummer ist, ich sage, dass sie spanisch ist. Das ist eine neue Erfahrung für mich persönlich. 

Welche schlechte Erfahrungen hast Du gemacht?

Arie: Ich persönlich bin jemand, der eigentlich positiv auf Menschen zugeht. Ich empfinde niemanden gegenüber Hass und schon gar nicht gegen Muslime. Aber ich sehe hier auf den Straßen Frankfurts viele Demonstrationen. Da ist so viel Hass. Dass am 7. Oktober Demonstrationen stattfinden und der Hamas Kampf als Befreiungskampf, als "Global Intifada" verherrlicht wird, das macht mir Angst.

Was meinst Du mit "Global Intifada"?

Arie: Es ist eine Parole, die auch in Frankfurt immer wieder auf Demonstrationszügen gerufen wird. Die Intifada, die in Israel und in der Westbank in den besetzten Gebieten stattgefunden hat, die soll nach dem Wunsch dieser Leute global werden. Was heißt das eigentlich? Aufstand, Gewalt. Was hat die eigentlich im Rest der Welt zu suchen? Man findet sie in diesen Anschlägen, die tödlich enden. Man findet sie auch in Schmierkampagnen im Internet, in einem Ausmaß, welches man sich gar nicht vorstellen kann. Das ist das, was unter der Oberfläche ist, was andere überhaupt nicht mitbekommen. Wenn Leute beschimpft werden, wenn zu Boykott von Geschäften aufgerufen wird, egal ob es Falafel-Läden sind oder vegane Läden von jüdischen Menschen, Eigentümern, die man gar nicht gefragt hat, wo sie politisch stehen.

"Dann sage ich, ihr seht mich nicht, ihr negiert mich. Ich kann auch nicht einfach sagen, Deutschland darf es nicht geben, weil da Schreckliches passiert ist"

Aus Deinem Bekanntenkreis sind davon Leute wirklich betroffen? Kannst Du da noch mehr erzählen?

Arie: Es wird im Netz dazu aufgerufen, nicht beim "Genozid-Falafel" oder beim "Genozid-Veganer" einzukaufen. Das sind so Sachen, die ich persönlich mitbekomme und die mich dann erschrecken, weil gerade diese Personen eine eindeutige Einstellung haben zu gleichen Rechten von Völkern.

Wie spürst Du diesen Antisemitismus in Deinem Leben? Erzähl bitte aus persönlicher Perspektive, wo Dir das begegnet.

Arie: Es begegnet mir tatsächlich in Freundschaften, in Menschen, die mir nahe sind, die auf einmal alles Schlechte unter die Fahne Israels packen. Und die auf einmal ganz unkritisch hinter irgendwelchen Aufrufen von Demonstrationen stehen. Dieser Staat gehört zum Judentum. Das ist meine Einstellung. Und wie der dann gestaltet wird, das ist eine ganz andere Geschichte, das ist eine politische Diskussion in Israel und da kann man auch dazu stehen, wie man will. Aber das Land selber in Frage zu stellen, das berührt mich, das trifft mich als Jude. Ja, wenn man das in Frage stellt, dann hört es auf, auch in Freundschaften. Dann sage ich, ihr seht mich nicht, ihr negiert mich. Ich kann auch nicht einfach sagen, Deutschland darf es nicht geben, weil da Schreckliches passiert ist. Ich kann nicht sagen, die Türkei soll aufhören zu existieren, weil dort Minderheiten verfolgt werden. Ich will mir nicht weh tun, deswegen höre ich meist an diesem Punkt auf zu reden. Aber ich habe schon in Gesprächen erlebt, dass dann auf einmal wirklich Hass aufkommt. Das ist mir neu, und dass in einer Offenheit, wie ich es davor noch nicht erlebt habe.

Du hast gesagt, dass getrennt werden muss zwischen dem Staat Israel und seiner Politik. Du kritisierst, dass alles in einen emotionalen Topf geworfen und mit Emotionen vermischt wird und daraus eine gefährliche Melange entsteht.

Arie: Ja, ich bring es auf einen Satz, den ich letztens auf einer Demonstration nicht zum ersten Mal gehört habe: "No two states, only one state. Free Palestine from the River to the Sea." Das heißt, keine zwei Staaten, ein Staat. Der heißt Palästina, und der geht vom River to the Sea. Vom Jordan bis zur Küste. Das heißt, Israel verschwindet. Und wie das verschwindet, darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Es wird offen aufgerufen, in verschiedenen Ländern, zur absoluten Zerstörung. Ich bin daraufhin zur Polizei gegangen, die in der Nähe stand, und habe gefragt, sagt mal, was dürfen die Leute eigentlich hier rufen? 

Wie hat die Polizei reagiert?

Arie: Die Polizei hat mir gesagt, ich solle mich ans Verwaltungsgericht wenden. Ich habe gesagt, dass das Existenzrecht Israels doch ein Teil der deutschen Staatsraison ist. Deutschland ist ein Land, das sagt: Wir stehen unbedingt zur Existenz Israels, das gehört zu unserem staatsrechtlichem Gedankengut. Wenn das so geschrieben ist, wie kann man sich dann sowas anhören? Es ginge auch umgekehrt nicht. Ich würde mir nicht anhören wollen, dass es für die Palästinenser kein Land geben soll. So etwas wird man auch von den Leuten, die ich kenne, nicht hören. So etwas hat man auch noch nie hier auf der Straße gehört.

An 7. Oktober 2023 hat man hier eine Pro-Palästina Demonstration angemeldet, just an dem Tag, als dieses schreckliche Massaker an israelischen Zivilisten und jungen Partyfeiernden stattfand. Sicherlich wird und wurde von diesen Demonstranten an diesem Tag nicht demonstriert, um der toten palästinensischen Flüchtlinge zu gedenken, die an diesem Tag gestorben sind. Denn an diesem Tag wurde eben Israel überfallen und das will man zelebrieren. Es macht daher Sinn, "Global Intifada" auf den Straßen Frankfurts und anderen Städten gerade an diesem 7. Oktober zu rufen und somit auch zur globalen Gewalt aufzurufen. Hier in Frankfurt wurde das am 7. Oktober zugelassen. Das wäre dasselbe, als würde die AfD sagen, wir möchten an Hitlers Geburtstag eine große Feier machen, natürlich nicht unter dem Namen, dass es Hitlers Geburtstag ist, aber man macht was Verwandtes. Es gibt bestimmte Daten, die sind einfach besetzt.

Was würdest Du Dir wünschen in deinem Leben, in deinem unmittelbaren Freundeskreis? Was ist jetzt Deine Hoffnung in dieser Situation oder hast Du die gar nicht mehr? 

Arie: Ich habe eine traurige Hoffnung, dass zum Beispiel in Australien, in Sydney, Menschen jetzt die Augen geöffnet werden. Das Menschen verstehen, dass es mehr ist als ein Nationalkonflikt. Es geht um einen jahrtausendalten Hass, der hochkommt. 

"Das ist für mich eine Überraschung. Ich habe die Kirche früher durch die Geschichte von Jahrhunderten, Jahrtausenden anders abgespeichert"

Wirst Du weiter auf Demonstrationen gehen? Kommen auch Deine nichtjüdischen Freunde mit?

Arie: Es gibt ein paar, aber nicht so viele, und das ist auch etwas, was sich verändert hat. Nach dem 7. Oktober waren es viel mehr, und jetzt, aufgrund dieser ganzen Berichterstattung über den schrecklichen Gazakrieg, haben sich Leute angefangen zu distanzieren, ohne sich die Frage zu stellen, wieso der Krieg nicht aufhört. Es gehören immer zwei dazu. Wieso hat niemand über die Hamas gesprochen, die bis zum letzten Mann kämpfen wollte. Es werden nur Täter-Opfer gesehen. Es ist, als gehöre ich schon beinahe zum Täterkreis. Und das ist kein schönes Gefühl.

Willst Du in Deutschland bleiben? Oder sagst Du, wenn das jetzt noch unangenehmer wird, dann gehe ich?

Arie: Ich bin eine ziemlich trotzige Person. Ich bleibe da, wo ich sein will, aber ich habe natürlich auch eine Tochter. Ich habe auch zwei Ziehkinder. Gut, die sind alt genug, um sich zu wehren. Die haben in ihrem Bekanntenkreis ziemlich heftige Erfahrungen machen müssen, obwohl sie nicht jüdisch sind, aber einfach in ihrer Naivität erzählt haben, wie toll das Essen in Tel Aviv ist und wie  nett die Menschen dort sind. Dann haben sie mit ziemlichen Anfeindungen zu tun gehabt und das hat auch zu Tränen geführt. In der Schule meiner Tochter gab es eine Lehrkraft mit einem Palästina-Sticker auf dem Laptop. Meine Tochter hat gesagt, dass es nicht schön ist, dass sowas in den Klassenraum kommt. Wenn jeder mit solchen Statements kommt, dann hört der Frieden auf.

Ist Gemeinschaft etwas, das Dir hilft? 

Arie: Ja. Gemeinschaft von Menschen, die sich ohne Vorbehalt etwas anhören können und einfach nur sagen: Ja, es gibt das Existenzrecht von Israel, das wird nicht in Frage gestellt. Wir stehen hinter Israel. Über die Politik kann man verschiedener Meinung sein, aber es gibt keine Diskussion über die Existenz des Staates Israel. Es macht mir als Jude Angst, wenn ich hier in Deutschland bin und es würde kein Israel mehr geben.

Ich kenne viele Menschen, die christlich sind. Gerade aus dem Kreis habe ich viel Zuspruch und Verständnis erfahren. Das ist für mich eine Überraschung. Ich habe die Kirche früher durch die Geschichte von Jahrhunderten, Jahrtausenden anders abgespeichert. Aber jetzt muss ich feststellen, dass da wirklich etwas wie eine Liebe ist, wie Freundschaft.