Was heißt "gerechter Friede"?

Kirchenpräsidentin Christiane Tietz und Chefredakteur Andreas Fauth im Dialog
indeon
Kirchenpräsidentin Christiane Tietz und Chefredakteur Andreas Fauth im Dialog über die neue Friedensschrift der EKD.
Tietz zur EKD-Friedensdenkschrift
Was heißt "gerechter Friede"?
Welche Rolle spielen Abschreckung und Atomwaffen für den Frieden? Die neue Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) lässt atomare Abschreckung als Option zu. Viele lesen das als Abschied vom Pazifismus. Christiane Tietz, Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), hält im indeon-Interview mit Chefredakteur Andreas Fauth dagegen.

Sie versteht die neue Friedensdenkschrift nicht so, "dass sie sich von einer pazifistischen Perspektive verabschiedet". Pazifismus bleibt für sie eine Haltung, die konsequent auf Frieden zielt und Frieden schaffen will. Kritisch sieht sie aber, dass das Papier Pazifismus vor allem als individuelle Gewissensentscheidung einordnet. Damit werde er "zu klein gemacht". Sie sagt klar: Pazifismus ist aus christlicher Sicht "auf jeden Fall ethisch vertretbar" – und nicht nur eine private Marotte Einzelner.

Im November hat die EKD "Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick" veröffentlicht. Sie knüpft an das Leitbild des "gerechten Friedens" an. Dazu gehören vier Dimensionen:

Schutz vor Gewalt
Freiheit
Abbau von Ungleichheiten
Pluralität

Christiane Tietz betont, Frieden heißt für sie mehr, als nur "Waffen schweigen lassen". Sie verbindet das mit dem biblischen Begriff "Schalom": einem Zustand, "in dem es allen umfassend wohl ergeht". Neu ist aus ihrer Sicht die Gewichtung: Der Schutz vor Gewalt habe Priorität. Ohne Schutz vor Gewalt, sagt Tietz, "können die drei anderen Säulen des gerechten Friedens gar nicht" entstehen.

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Atomwaffen als Grenze - und als Option?

Beim Thema Atomwaffen fasst Christiane Tietz die Linie der Denkschrift so zusammen: Besitz, Einsatz und Androhung von Atomwaffen seien "ethisch nicht zu legitimieren". In ihrer eigenen Sprache nennt sie Atomwaffen "Massenvernichtungshilfsmittel". Für sie sind das gerade keine Waffen, die sich auf einen begrenzten Kriegsfall beziehen lassen.

Die Friedens- und Konfliktforscherin Johanna Speyer vom Frankfurter Leibniz-Institut PRIF findet: Die Denkschrift rückt "zu weit" vom Ziel ab, Atomwaffen zu ächten. Ihr Urteil: "Atomwaffen sind ethisch nur schwer zu rechtfertigen." Sie kritisiert, dass die Denkschrift zwar die Notwendigkeit von Abschreckung benennt, aber keine klaren Schritte in Richtung einer atomwaffenfreien Welt aufzeigt.

Kritik: Zu viel Militär, zu wenig Zivil

Die EKHN-Basis reagiert unterschiedlich. Pfarrerin Sonja Löytynoja aus dem Dekanat Gießen sagt, sie hätte vor einigen Jahren "ein ganz klares Statement" gegen Abschreckung gehabt. Heute, mit der weltpolitischen Lage, sei das "komplexer", sodass sie nicht mehr ausschließen würde, "dass Abschreckungsmaßnahmen nötig sein können und müssen, um Frieden zu sichern". Auch Sebastian Ohly aus dem Dekanat Kronberg berichtet von einem Wandel: Vor fünf Jahren sei für ihn – geprägt durch seine theologischen Eltern – klar gewesen, dass Atomwaffen "moralisch und ethisch nicht vertretbar" seien. Heute frage er sich, ob diese Haltung in einer Welt, "in der Russland macht, was es will, China macht, was es will, Amerika erstaunlicherweise macht, was es will", noch trägt. Aus der "alten Perspektive" seien Atomwaffen "nicht klug", aus einer "realpolitischen Welt" würde er eher ja sagen – beide Haltungen bekomme er aber "nicht richtig übereinander".

Susanne Koch aus dem Dekanat Gießener Land engagiert sich nicht nur für Kirchenpolitik, sondern ist auch Physikerin mit Erfahrung in der Kernphysik. Sie sagt: "Atomwaffen finde ich furchtbar. Die sind vernichtend." Sie habe früher dagegen demonstriert und wolle diese Waffen nicht - sei aber "am Zweifeln und am Verzweifeln" angesichts der Situation. Ob Abschreckung helfe? "Ich weiß nicht, ob’s stimmt oder nicht."

Friedensverbände wie die Arbeitsgemeinschaft Dienst für den Frieden sehen in der Denkschrift vor allem eine Aufwertung militärischer Mittel. Aus ihrer Sicht versucht der Text, "militärisches Handeln friedensethisch zu rehabilitieren" und bleibt damit auf "politisch realistischem" Terrain. Zivile Konfliktbearbeitung, gewaltfreie Strategien und internationale Institutionen kämen zu kurz.

Auch die Bonhoeffer‑Niemöller‑Stiftung und die "Initiative Christlicher Friedensruf" gehen auf Abstand. Sie warnen, die Denkschrift gebe faktisch das Ziel auf, die "Institution Krieg" aus der Politik zu verdrängen. Sie verenge die Gewaltfreiheit Jesu, verniedliche christlichen Pazifismus und rücke gefährlich nahe an eine Anpassung an Regierungspolitik.

Zwischen Pazifismus, Zweifel und Realpolitik

Für Josua Keidel betont, dass Diplomatie "am besten" sei. Er plädiert für ausreichende "Ausrüstung", damit "angemessene Kräftegleichgewichte" entstehen und man sich im Ernstfall verteidigen könne. Unter einer russischen Herrschaft wolle er nicht leben.

 

Der ehemalige Soldat Jörg Fried aus dem Dekanat Rheingau-Taunus erinnert sich an seine Zeit damals: Er habe mit der Waffe bereitgestanden, um sein Land zu verteidigen und dem damaligen Gegner – dem Warschauer Pakt – zu zeigen: "Wenn du uns angreifst, werden wir zurückschlagen. Und wir sind nicht wehrlos." Übertragen auf heute sagt er: Man müsse schauen, "welche Waffen der Gegner hat" und entsprechend reagieren. "Wenn es auf der Gegenseite Atomwaffen gibt, dann müssen wir auch über Atomwaffen verfügen."

Jan‑Niklas Rabe, Jugenddelegierter aus dem Dekanat Mainz, hält dagegen: "Meiner Meinung nach ist es schwierig, überhaupt irgendwie zu vertreten, dass Waffen für Frieden gut sind." Er erinnert an einen früheren weltweiten Konsens, dass das nicht geht – und findet, "da gilt es, sich dagegen zu stellen".

Schuld aushalten statt sich rausziehen

Christiane Tietz setzt einen anderen Akzent. Ein Kernmotiv von ihr ist die Frage nach Schuld. Die Kirchenpräsidentin betont: In Fragen wie Waffenlieferungen und Abschreckung "gibt es keine Entscheidung, in der wir ohne Schuld bleiben". Mit einem Satz des Theologen Dietrich Bonhoeffer spricht sie davon, dass Menschen "so oder so schuldig" werden. Das gilt für sie in alle Richtungen: Wer militärische Gewalt als "rechtserhaltende Gewalt" einsetzt, lädt Schuld auf sich.
Wer sich konsequent verteidigen lässt, ohne selbst zur Waffe zu greifen, lädt ebenfalls Schuld auf sich. Und auch die konsequente Pazifistin, die nicht eingreift, um Gewalt zu stoppen, trägt Verantwortung. Für Tietz folgt daraus: "Keiner kommt in diesen komplizierten Situationen mit weißer Weste" davon.

Mut, Hoffnung – und der "Stachel" des Pazifismus

Viele Menschen suchen in Kriegszeiten vor allem Zuversicht. Sie fragen sich, ob es nicht hoffnungslos wirkt, wenn die Kirche nun auch atomare Abschreckung als Option benennt. Für Christiane Tietz gehören Realismus und Hoffnung zusammen. Sie sagt: Die evangelische Kirche muss "uns die Stärke des konsequenten Pazifismus ja auch immer wieder" vor Augen halten. Für sie bleibt diese pazifistische Perspektive "die entscheidende Perspektive".

Was bleibt außer großen Worten in Denkschriften?

Christiane Tietz verweist auf konkrete Arbeit vor Ort. Sie nennt Friedensinitiativen und Projekte, die die Kirche unterstützt: Gruppen, "die in Konfliktkonstellationen für Verständigung, für Beziehungen, für Friedensprojekte arbeiten". Ziel sei, dass Menschen den anderen nicht nur als Feind sehen, "sondern der kann sehr wohl auch mein Freund sein".

evangelisch.de dankt indeon.de für die inhaltliche Kooperation.