Wissenschaftlerin: EKD-Denkschrift geht bei Atomwaffen zu weit

Friedens- und Konfliktforscherin Johanna Speyer
epd-bild/PRIF/Uwe Dettmar
"Atomwaffen sind weder ethisch noch politikwissenschaftlich zu rechtfertigen", kritisiert die Konfliktforscherin Johanna Speyer die neue EKD-Friedensdenkschrift.
Kritik an EKD-Denkschrift
Wissenschaftlerin: EKD-Denkschrift geht bei Atomwaffen zu weit
Die Friedensdenkschrift der evangelischen Kirche setzt einen neuen Ton: Zuoberst steht der Schutz vor Gewalt, auch Atomwaffen könnten notwendig sein. Eine Friedens- und Konfliktforscherin widerspricht.

Die neue Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) weicht nach Aussage der Friedens- und Konfliktforscherin Johanna Speyer zu weit ab von dem Ziel, Atomwaffen zu ächten. "Atomwaffen sind ethisch nur schwer zu rechtfertigen", sagt die Politikwissenschaftlerin am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) in Frankfurt am Main dem Evangelischen Pressedienst (epd).

"Zudem weisen politikwissenschaftliche Analysen auf Risiken hin, die die Denkschrift nicht hinreichend reflektiert." Speyer bedauerte: "Besser wäre eine Empfehlung gewesen, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag der UN beitritt." Die Analyse der EKD-Denkschrift greift nach den Worten von Speyer in einigen Punkten zu kurz: Zum einen dürften die konventionelle und die nukleare Abschreckung nicht gleichgesetzt werden, Atomwaffen stellten eine viel größere Gefahr dar.

Zum anderen gebe es für das Funktionieren der Abschreckung wissenschaftlich keinen Beleg. Es habe schon mehrere Kriege gegen Atommächte und mutmaßliche Atommächte gegeben, so der Angriff Ägyptens und Syriens 1973 gegen Israel, der Angriff Argentiniens 1982 gegen die britischen Falkland-Inseln, mehrere Kriege zwischen Indien und Pakistan und Grenzscharmützel zwischen China und Indien.

Selbst im Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA habe die Welt mehrmals am Rande eines Atomkriegs gestanden. Dass es nicht dazu kam, sei auch Glück zu verdanken gewesen. Die EKD-Denkschrift reflektiere die Problematik dreier Grundannahmen der nuklearen Abschreckung nicht: Dass das Gegenüber rational handele, dass Atomwaffen nur bei vitalen Interessen eingesetzt würden und dass die Abschreckung glaubwürdig sein müsse.

Schutz vor Gewalt nicht hinreichend erklärt

Alle drei Annahmen könnten in der aktuellen Konfrontation mit Russland infrage gestellt werden. Unter anderem sei die Glaubwürdigkeit der Abschreckung durch Demokratien schwächer als durch autoritäre Staaten, weil in einer Demokratie der Einsatz von Atomwaffen schwieriger durchzusetzen sei. Aber auch die Darstellung der pazifistischen Position greife in der Denkschrift zu kurz, kritisierte die Politikwissenschaftlerin.

Der Verzicht auf Waffen und Abschreckung werde nicht bis zu Ende durchdacht. Die Denkschrift lege unzureichend dar, wie eine pazifistische Position den Schutz vor Gewalt als oberste Leitlinie erreichen könne. Auch beleuchte sie nicht die Übergänge zwischen einem Waffenverzicht und der Friedenssicherung mit Waffen.

Die Kritik pazifistischer Stimmen, die EKD-Denkschrift rechtfertige Gewalt und gebe das Ziel auf, den Krieg zu überwinden, treffe jedoch nicht zu, sagte Speyer. Die Denkschrift öffne sich für verschiedene Positionen, um Gewalt und Krieg einzudämmen. Pazifisten müssten ihrerseits erklären, wie sie Gewalt und Krieg überwinden wollten. Ihr Anspruch, nur der Pazifismus erreiche dieses Ziel, greife zu kurz. Auch diejenigen, die sich für den Besitz von Waffen zur Abschreckung oder für Waffenlieferungen an die Ukraine aussprächen, wollten keinen Krieg.

In einem Interview betont die EKHN-Kirchenpräsidentin Prof. Dr. Christiane Tietz die Bedeutung des Evangeliums für unsere Fähigkeit zum Frieden. "Ich begrüße den Realitätssinn der neuen Friedensdenkschrift, der ernstnimmt, dass wir mit unserem Nachdenken über Frieden in einer neuen weltpolitischen Lage sind. Friedensethik geschieht immer im Kontext von konkreten Herausforderungen und Umständen. Wir mussten in den letzten Jahren erkennen, dass die Welt sich – anders, als wir nach dem Mauerfall dachten – leider nicht stetig zu mehr Menschlichkeit, Frieden und Gerechtigkeit, zu mehr Demokratie weiterentwickelt. Im Gegenteil."