Wenn’s dem Esel zu wohl wird, geht er auf’s Eis. Anders als das übermütige Huftier aus der Redensart erfolgen Wilsbergs Ausflüge in die schöne neue digitale Welt allerdings nicht freiwillig: Der Privatdetektiv aus Münster, "ein analoger alter Mann", wie seine junge Klientin feststellt, ist bekennender Anti-Digitalist und besitzt nicht mal ein Smartphone. Dass ihn die Drehbücher trotzdem immer wieder mit den neuesten Errungenschaften der modernen Technik konfrontieren, ist also pure Willkür.
Fürs Publikum hingegen ist der Kontrast natürlich reizvoll. Hier der Antiquar inmitten seiner uralten Folianten, dort eine Künstliche Intelligenz: Das kann und muss heiter werden. Eine direkte Kooperation mit der KI bleibt Wilsberg (Leonard Lansink) jedoch erspart, dieses Vergnügen gönnt Stefan Scheich in seinem ersten Drehbuch für den ZDF-Dauerbrenner (Lansink spielt die Rolle seit 1999) dem ewigen Gegenspieler des Detektivs.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Münster wird im Rahmen eines Pilotprojekts als erste Polizeidienststelle durch eine KI unterstützt. Eigentlich soll sich Kommissar-Anwärterin Wolfangel darum kümmern, aber da sie wegen eines Lehrgangs verhindert ist, nimmt sich Overbeck (Roland Jankowsky) des KI-Kommissars an. Die Kollegin hat "KI-Ko" allerdings ihr Gesicht geliehen, sodass Darstellerin Sarah Alles auf dem Monitor der KI präsent bleibt; ein kleiner Vorgeschmack darauf, was den Mitgliedern der Schauspielbranche blüht, wenn digitale Avatare ihre Rollen übernehmen.
Overbeck, nach eigenem Bekunden im Präsidium ohnehin die Fachkraft für Zukunftstechnologie, hat sich auch in früheren Filmen schon als Pionier hervorgetan; er hätte keinerlei Bedenken, sämtliche digitalen Möglichkeiten von der Gesichtserkennung bis zur Vorhersage von Verbrechen bei der Ermittlungsarbeit einzusetzen. Weil er nicht dazu kommt, KI-Ko mit den Dienstvorschriften zu füttern, setzt sich die Computer-Kollegin fröhlich über alle Regeln hinweg und verschafft sich beispielsweise ohne entsprechenden richterlichen Beschluss Zugang zu den privaten Mails von Verdächtigen.
Anders als im Krimi üblich gibt es zunächst aber gar keinen Mordfall, sondern bloß die Ankündigung eines Todes: Studentin Jana (Lilly Charlotte Dreesen) hört bei ihrer Auswertung der Aufnahmen eines Sprachassistenten, dass eine gewisse Manuela in zwei Tagen sterben soll. Weil ihr Auftraggeber die Sache nicht nur nicht ernst nimmt, sondern auch auf ihre weitere Mitarbeit verzichtet, wendet sie sich ausgerechnet an den "bekennenden Offliner" Wilsberg, der sich somit erneut auf das ihm völlig unbekannte Terrain begeben muss.
Die digitale Unerfahrenheit der Hauptfigur hat immerhin den Vorteil, dass Scheich den unvermeidlichen Erklärungsbedarf geschickt mit einer Botschaft verknüpfen kann: Das einheimische Unternehmen RuSonos wirbt damit, dass sämtliche Gespräche oder Anweisungen, die sein Sprachassistenzsystem HeyYou aufzeichnet, umgehend gelöscht werden. Dafür stehen sowohl Firmenchef Hermann Rupert (Gerd Silberbauer) wie auch Tochter Simone (Kathrin von Steinburg), die der Patriarch als seine Nachfolgerin betrachtet, weil sie RuSonos in seinem Sinne weiterführen wird.
Das Unternehmen verspricht den Käuferinnen und Käufern von HeyYou im Gegensatz zu all’ den anderen Datenkraken eine absolute Kontrolle darüber, welche Informationen an Dritte weitergegeben werden dürfen. Sohn Jens (Matthias Weidenhöfer), Finanzchef der Firma, weiß jedoch, dass allein mit dem Verkauf der Geräte auf Dauer kein Gewinn zu machen ist. Er plädiert daher energisch dafür, wie sämtliche großen Tech-Konzerne die Daten zu monetarisieren, ansonsten drohe RuSonos die Pleite. Der Patriarch lässt sich trotzdem nicht umstimmen. Als es in den Räumen des Unternehmens zu einem Todesfall kommt, fällt der Verdacht ausgerechnet auf Jana, die im Auftrag von Jens das ohne Wissen der Betroffenen aufgezeichnete Datenmaterial auswerten sollte.
Die Handlung nimmt allerlei überraschende Wendungen, weil Scheich, zuvor neben Vorabendserien auch für "Der Lehrer" (RTL) und "Der letzte Bulle" (Sat.1) tätig, diverse weitere Aspekte des digitalen Kernthemas streift. So stößt Wilsbergs Freund Ekki (Oliver Korittke), seines Zeichens Steuerprüfer, in den Zahlungseingängen eines prominenten Tech-Influencers auf Umsätze, die seine Unabhängigkeit als Produkttester erheblich in Frage stellen. Regie führte Martin Enlen, einer der Stammregisseure der Reihe, aber die Inszenierung des insgesamt 87. "Wilsberg"-Krimis ist im Unterschied zu vielen seiner früheren Episoden diesmal eher unauffällig. Fesselnd ist "Phantomtod" daher vor allem wegen der Handlung; das Kern-Ensemble ist ohnehin stets sehenswert.




