Geht’s in Krimis oder Dramen um Kinder aus schwierigen Verhältnissen, wird in der Regel auch das Dilemma der Jugendämter angesprochen. Im "Tatort" aus Dresden skizziert ein Mitarbeiter die missliche Lage: "Nehmen wir ein Kind aus einer Familie, sind wir schuld. Tun wir das nicht und dem Kind passiert was, sind wir auch schuld." Lilly-Marie, mittlerweile 16, war eins dieser Kinder. Seit vier Jahren lebt sie in einem Heim, das zwar einen ausgezeichneten Ruf genießt, aber völlig zu Recht, wie sich schließlich zeigt, den Namen "Siebenschläfer" trägt.
Die Handlung beginnt mit einer nächtlichen Flucht: Lilly-Marie und ihr etwas älterer Freund Pascal knacken ein Fensterschloss und hauen ab. Aus dem Off beschreibt sie ihre Freude darauf, endlich frei zu sein. Während sie ihre Sachen packt, singt Beyoncé ihren Hit "Halo". Später, als sich die Stimmung radikal gewandelt hat, erklingt das Lied erneut, nun allerdings in der wesentlich melancholischeren Version von Lotte Kestner: Lilly-Marie ist nur bis zu einem Steinbruch in der Nähe gekommen. Am nächsten Morgen wird ihre Leiche im Baggersee gefunden, Pascal ist verschwunden.
Weil es noch keine Nachfolgerin für die Kollegin Gorniak gibt, bekommt Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) Unterstützung vom Chef (Martin Brambach). Der ist darüber zwar nur mäßig begeistert, aber seine bedrückte Miene im Heim hat andere Gründe: Er war als Kind selbst einige Jahre in einer derartigen Einrichtung. Die gemeinsame Erfahrung hat zur Folge, dass er einen guten Draht zu Pascal findet. Zunächst steht jedoch die Frage im Vordergrund, was sich am Abend der Flucht zugetragen hat. Pascal versichert, dass er nichts mit dem Tod der Freundin zu tun hat, auch wenn er natürlich frustriert war, als sie ihm klar gemacht hat, dass er in ihren Zukunftsplänen keine Rolle spielen würde. Der als Kind schwer traumatisierte Junge gilt als tickende Zeitbombe; er nimmt ein starkes Medikament, das ihm helfen soll, seine Impulse zu zügeln.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Bei derartigen Stoffen lauert stets die Gefahr, dass ein Krimi zum Sozialdrama wird. Das haben "Spiegel"-Autorin Frauke Hunfeld und Silke Zertz – die beiden haben auch die Drehbücher zur ausgezeichneten ARD-Serie "Lauchhammer" (2022) geschrieben – klug vermieden. Trotzdem spielt zum Beispiel Lilly-Maries familiärer Hintergrund eine wesentliche Rolle, weil die Mutter (Milena Dreissig) ihre Tochter nach Ansicht des Jugendamts manipuliert hat; das Mädchen musste die Schule schwänzen, um sich um die jüngeren Brüder zu kümmern. Viel wichtiger für die Handlung ist aber das Heim, dem der "Tatort" seinen Titel verdankt: Im "Siebenschläfer" geht es nach Schnabels Überzeugung nicht mit rechten Dingen zu; konkrete Anzeichen kann er allerdings nicht benennen. Das besorgt dafür die Regie: Als ein Junge hinter dem Rücken des Hauptkommissars vorbeigeht, ist ein leises "Wusch!" zu hören, wie es gern in Filmen über Geister verwendet wird.
Weil Pascal als Hauptverdächtiger gilt, nach dem natürlich gefahndet wird, zumal er eine frühere Heimerzieherin würgt, als sie ihm nicht helfen will, bleibt dem Film die Krimispannung erhalten. Auch die Obduktion gibt keinen eindeutigen Hinweis darauf, ob Lilly-Marie das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Ein Psychiater (Hanno Koffler), der die Jungen und Mädchen im Heim betreut, schließt einen Suizid zwar kategorisch aus, doch ein Tagebuch lässt erahnen, mit welchen Dämonen die Sechzehnjährige gerungen hat. Die Aufzeichnungen zeugen von Selbsthass wegen ihres Übergewichts, Sprachnachrichten an ihre Mutter ("Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr") von Lebensmüdigkeit; diese Szene wird von der zweiten "Halo"-Version untermalt. Der wichtigste Eintrag im Journal enthält den Schlüssel zur Lösung, aber das können Schnabel und Winkler noch nicht ahnen: Sie fühle sich, schreibt Lilly-Marie, als sei sie von einem Riesenmonster aus Watte verschluckt worden; und niemand höre sie schreien.
Ähnlich vorzüglich wie Dilara Aylin Ziem hat Regisseur Thomas Sieben auch Florian Geißelmann geführt. Ihm gelingt das Kunststück, Pascal aller Unbeherrschtheit zum Trotz eine gewisse Sympathie zu bewahren. Das liegt nicht zuletzt am Zusammenspiel mit Martin Brambach und dem Herzstück des Films, als der Abteilungsleiter dem jungen Mann von seiner Heimvergangenheit erzählt. Fans des "Tatorts" aus Dresden werden sich allerdings wundern, dass Schnabel und seine Kollegin auch in privaten Momenten wieder zum "Sie" übergangen sind: Winkler ist die Tochter eines guten Freundes, er kennt sie seit ihrer Kindheit.