Der Auftakt macht jede Hoffnung auf einen guten Ausgang dieses Films zunichte: Zwei Vermummte nähern sich einem geparkten Streifenwagen und schießen auf die beiden Insassen. "Die Geschichte ist fiktional", heißt es anschließend in einer Einblendung. Dann folgt der Zusatz: "Aber nicht nur. Auch das Mögliche, Verlorene und Vergessene wird erzählt". Die Tat ist authentisch: Im April 2007 wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn durch einen Schuss in den Kopf getötet.
Produzentin Gabriele Sperl beendet mit "Die Nichte des Polizisten" das wohl wichtigste Projekt ihrer langen Karriere. 2017 hat sie für ihr Konzept zu "Mitten in Deutschland: NSU" den Grimme-Preis bekommen. Die erschütternde Trilogie dokumentiert die Taten der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" jeweils aus der Perspektive von Tätern, Opfern und Ermittlern. Die Ermordung von Kiesewetter wird ebenfalls dem "NSU" angerechnet. Die Bezeichnung fällt im Film allerdings ebenso wenig wie die Namen der beiden Männer, die zwischen 2000 und 2006 neun Kleinunternehmer mit Migrationshintergrund getötet haben.
Sperl, Nicole Armbruster sowie der bereits an der Trilogie beteiligte Rolf Basedow erzählen eine ganz andere Geschichte, die an Nina Vukovics Drama "Am Ende der Worte" (2022), erinnert. Der Film ist das fast dokumentarisch gestaltete Porträt einer jungen Polizistin, die nach ihrer Ausbildung mit der rauen Realität konfrontiert wird. Rebecca Henselmann, von Magdalena Laubisch mit großer Glaubwürdigkeit verkörpert, ist Anfang zwanzig und ehrgeiziges neues Mitglied einer in Böblingen stationierten Truppe der Bereitschaftspolizei. Gleich beim ersten Einsatz unterläuft ihr ein folgenschwerer Fehler, der die ganze Gruppe hätte gefährden können, wie ihr anschließend vorgehalten wird.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Gemeinsam mit Kameramann Clemens Baumeister vermittelt Dustin Loose, der mit "ZERV" (2022, ARD) eine fesselnde Politkrimiserie über ein ostwestliches Ermittlerduo im wiedervereinigten Deutschland gedreht hat, die Eindrücke hautnah: Die Kamera unterm Visier lässt Rebeccas Adrenalin beim Einsatz während einer gewalttätigen Demonstration förmlich spüren, die dumpfen Schläge gegen ihr Schild verdeutlichen die Bedrohlichkeit der Situation. Die Bilder erinnern an den ZDF-Film "Allein zwischen den Fronten" (2024), in dem ein Polizist als Gewalttäter gilt, weil er während einer eskalierten Demo einen Stein zurückgeworfen hat.
Der Titel hätte auch gut zu dieser im Auftrag des SWR entstandenen Produktion gepasst. Dass sich die Verantwortlichen für "Die Nichte des Polizisten" entschieden haben, hängt mit den Wurzeln der Hauptfigur zusammen: Rebecca kommt aus Thüringen, ihr Onkel (Thorsten Merten) war dort beim Staatsschutz. Er liefert die Hintergrundinformationen und sorgt so für die Verbindung zur "NSU"-Trilogie, wenn er zum Beispiel feststellt, dass der Verfassungsschutz die Rechten im Land mit seinen V-Leuten überhaupt erst groß gemacht habe.
Die Heimatbesuche seiner Nichte sorgen für die Struktur der aus diesem Grund allerdings auch etwas episodisch anmutenden Handlung. Schließlich manifestiert sich, was bereits zu ahnen war: Es gibt intensive Kontakte zwischen der rechten Szene im Osten sowie der Organisierten Kriminalität im Süden. Und nicht nur das: Die Parole "Wir sind die letzte Bastion!" hört Rebecca nicht nur aus den neofaschistischen Kreisen in ihrer Heimat, sondern auch von einem Kollegen aus ihrer Truppe.
Jenseits der politischen Ebene entspricht "Die Nichte des Polizisten" dem Schema des Polizeifilms. Nach ihrem Fauxpas zu Beginn verschafft sich Rebecca den Respekt der größtenteils männlichen Gruppe.
Der Umgangston ist getreu der Devise "Bullenschweiß und Manneskraft" rau, aber herzlich: Alkohol und Sex nach gelungenen Einsätzen, derbe Sprüche, Korpsgeist ("Wir sind die Besten"); wird ein Kollege verletzt, nimmt die Truppe prompt Rache. Schon früh deutet der Film an, dass sich nicht alle an den Eid auf die Verfassung gebunden fühlen. Ihren Reiz bezieht die Geschichte unter anderem aus dem Genremix: Mit dem Kollegen Laurin (Max von der Groeben) erlebt die Polizistin eine Romanze, und wenn sie als Scheinkäuferin von Drogen unterwegs ist, wandelt sich der Film vorübergehend zum Krimi. Zwischendurch gibt’s immer wieder sehr authentisch wirkende Trainingsszenen, in denen Magdalena Laubisch auch physisch an ihre Grenzen gehen musste. Die Gründe für Rebeccas Tod lassen sich zwar erahnen, bleiben aber offen. Antworten gibt die anschließende Dokumentation mit dem Titel "Warum musste Michèle Kiesewetter sterben?"