Wandern bei Wind und Wetter, Ausblicke über weites Land erobern, Gipfel stürmen: Über Jahrhunderte schien das Männersache zu sein, die der Romantiker und Naturforscher, Aussteiger und Rebellen. Jean-Jacques Rousseau etwa, dem aufklärerischen Philosoph und Schriftsteller, wird der verkürzte Aufruf "Zurück zur Natur" zugeschrieben.
Oder der Amerikaner Henry David Thoreau, der rund 100 Jahre später in einer Hütte im Wald lebte und darüber schrieb ("Walden"). Oder der romantische Maler Caspar David Friedrich mit seinen Motiven der Waldeinsamkeit. Auch die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Anneke Lubkowitz assoziierte das Wandern lange mit Männern: Der "Wanderer über dem Nebelmeer", das berühmte Bild Friedrichs, das einen Mann von der Rückseite zeigt, wie er auf einem wolkenverhangenen Gipfel des Elbsandsteingebirges steht, war für Lubkowitz der Inbegriff des Wanderers.
Bis sie auf Frauen wie Elisa von der Recke (1754-1833) stieß. Fast 30 Jahre vor dem Maler war die heute vergessene Dichterin unterwegs in diesen "Felsengegenden … die bis jetzt noch unbesucht waren". Sie schilderte diese Wanderungen in ihren später veröffentlichten Tagebüchern. "Friedrich schien ihrer impliziten Aufforderung zu folgen - es waren ihre Fußstapfen, in die er trat", schreibt Lubkowitz. Funktionskleidung war damals unbekannt.
Die empfindsame Dichterin Sophie La Roche (1730-1807), ist auf Bildern mit hochgetürmter Frisur und in voluminösen langen Kleidern zu sehen. Mit der sehr erfolgreichen "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" gilt sie als erste Frau, die einen deutschen Roman veröffentlicht hat und sogar davon leben konnte. Freilich blieb sie anonym.
Sehnsucht nach Freiheit
Ihr damaliger Verlobter Christoph Martin Wieland machte sie im Vorwort gewissermaßen zur Erfinderin des Genres "Frauenromans", indem er auf ihr Geschlecht und auf die fehlende Kunstfertigkeit ihres Schreibens verwies, das eine "Frucht der bloßen Natur" sei. Dies geschah wohl, wie Lubkowitz vermutet, um die Authentizität des Werks zu betonen, was beim Publikum gut ankam. Das "Fräulein von Sternheim" liebt die Ausflüge in die Natur, die als Gegensatz zur verkommenen Hof-Gesellschaft dargestellt wird. Sophie von Sternheim sehnt sich danach, frei zu sein und in der "unbegränzten schönen Weite" ihren Weg zu suchen.
Sophie von La Roche erlebte den Höhepunkt eigener Wanderungen, als sie 1784 sie mit ihrem Sohn Franz in die Schweiz reiste, um dort von Chamonix aus den Montblanc und seine Gletscher zu sehen: eine abenteuerliche Reise auf teils gefährlichen Bergpfaden. Wie der Bergführer damals bestätigte, war sie die erste deutsche Frau, die diese Region besuchte. Ihre Überwältigung am Fuße des "Mare-de-Glace"-Gletschers ("Eismeer") hält die Schriftstellerin von großer Demut ergriffen und sehr lebendig in Briefen an ihre Töchter fest, Jahre vor den Alpen-Beschreibungen Goethes.
Wandern hatte in Romantik wichtigen Stellwert
In der Romantik, in der das Wandern einen Stellwert wie nie zuvor erhielt, sind es vor allem zwei Frauen, denen Lubkowitz nachspürt: Bettina Brentano (1785-1859), später verheiratete von Arnim, und Karoline von Günderrode (1780-1806). Beide verband eine Freundschaft. "Oft bin ich unruhig und kann nicht auf einem Platz bleiben, ich muß fort ins Feld, in den Wald; - in freier Luft kann ich alles denken, was im Zimmer unmöglich war", schreibt Brentano in dem Buch "Die Günderode", in dem sie literarisch an die Freundin und Vertraute erinnert.
Sie, die jüngere, fast überdreht in ihrer Begeisterung, lässt sich durch Wind und Wetter nicht abschrecken und unternimmt - entgegen dem Verbot - auch nächtliche Streifzüge. Leidenschaftliche Empfindungen und Freiheit sucht sie allein im Nebeldunst und stellt sich die Nebelfetzen als wohlwollende Geister vor. Nicht nur in den Abenteuerberichten Brentanos, auch in der Philosophie der beiden Romantikerinnen spielt das Wandern eine wichtige Rolle. "Sieh alles Leben! Es hat kein Bestehen, es ist ein ewges Wandern, Kommen, Gehen", heißt es in einem Gedicht der Günderrode, die froh war, gemeinsam mit Bettina der Enge ihrer zwei Zimmer im Frankfurter Damenstift zu entkommen.
In der Idee von Bewegung und Verwandlung als Prinzipien des Lebens spiegeln sich philosophische und naturwissenschaftliche Vorstellungen ihrer Zeit. Die hochgebildete Günderrode hatte Schellings Naturphilosophie mit ihrer engen Verbindung von Mensch und Kosmos genau studiert. Die Reihe der Literatinnen, die sich wandernd eine Welt erschlossen, setzte sich fort: über die "Frankenstein"-Autorin Mary Shelley, die das Vorbild für die Burg Frankenstein im Odenwald fand, und Annette von Droste-Hülshoff, die beobachtend und Steine sammelnd über Hochmoore und Felder zog, bis hin zu Else Lasker-Schüler und Simone de Beauvoir.
Elf Dichterinnen beschreibt Lubkowitz, die über "Nature Writing" promovierte, in ihrem in diesem Herbst erschienenen Buch "Rebellinnen zu Fuß".
Weibliche Entdeckungsfreude und Naturbegeisterung, die zur Poesie führt, kennzeichnet noch viel mehr schreibende Frauen. Lebendige Autorinnen können einem auch heute auf Wanderungen begegnen, Szusza Bank etwa im Taubertal, Iris Wolff im Schwarzwald oder die Bestsellerautorin und Weitwanderin Raynor Winn ("Der Salzpfad") in Cornwall. Es sind Frauen, die literarischen Wegbereiterinnen gewissermaßen doppelt auf der Spur sind.