Niemand kennt seine Vergangenheit, und das soll auch so bleiben. Julius Kraus hält sich aus allem raus und stellt sich lieber krank, bevor er womöglich in ein Amt gewählt wird. Er hat sich ohnehin nie um eine offizielle Aufnahme in die dörfliche Gemeinde bemüht. Die Handlung des Heimatdramas wie auch der zweiteiligen Verfilmung beginnt 1918 und endet 1933. Kaum jemand ahnt, dass Kraus ursprünglich jüdischen Glaubens war; und doch weiß es einer zu viel. Dass früh abzusehen ist, wie die Geschichte ausgehen wird, macht es nicht leichter, den erschütternden Schluss zu ertragen.
Graf hat in vielen seiner Romane das Verhältnis von Kleinbürgertum und Faschismus analysiert. Für "Unruhe um einen Friedfertigen" gilt das im Besonderen, für "Sturm kommt auf" (Drehbuch: Hannah Hollinger) sogar noch mehr; das lässt die episodisch konzipierte Geschichte so beklemmend aktuell wirken. Wichtigste Figur neben dem vom österreichischen Kabarettisten Josef Hader konsequent inwendig verkörperten Schuster ist sein Gegenspieler. Silvan Heingeiger ist der Prototyp eines missratenen Sohnes, der den Vater (Sigi Zimmerschied) vom eigenen Hof vertreiben will; ein feister Drückeberger und Wichtigtuer, aber wie geschaffen als willfähriger Mitläufer.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Es gab schon einige filmische Studien solcher im Grunde verkrachter Existenzen, die als Faschisten einen Zipfel der Macht erhaschen, doch Frederic Linkemann gelingt es, diesem Mann zuweilen sogar sympathische Momente abzugewinnen. Das lässt ihn sogar noch furchtbarer wirken: Silvan könnte auch ein netter Kerl sein, aber er nutzt die günstigen Umstände, um sich als Mitglied des Freikorps Oberland Respekt zu verschaffen. Noch tragen die Männer keine braunen Uniformen, doch der Übergang ist fließend. Teil zwei (ab 22.00 Uhr) beginnt mit einem Zeitsprung ins Jahr 1932. Silvan ist jetzt Sturmführer bei der SA und hat freie Hand, um im Dorf aufzuräumen, allen voran mit dem Kommunisten Allberger (Sebastian Bezzel), der ihm zu Beginn von Teil eins eine empfindliche Abreibung verpasst hat. Kraus, der den verschuldeten Silvan abblitzen ließ, als der ihn anpumpen wollte, ist der nächste auf seiner Liste.
Matti Geschonneck, dutzendfach mit allen wichtigen deutschen Fernsehpreisen ausgezeichnet (zuletzt 2023 mit dem Grimme-Preis für "Die Wannseekonferenz"), hat die Adaption als klassisches Fernsehspiel verfilmt. Bei einem derartigen Stoff spielt gerade die sprachliche Authentizität eine erhebliche Rolle. Das Ensemble ist vorzüglich zusammengestellt, zumal viele weitere Mitwirkende, unter anderem Helmfried von Lüttichau als opportunistischer Wirt, im besten Sinn Charakterköpfe sind. Sehr interessant ist auch die sparsam eingesetzte Musik (Boris Bojadzhiev). Den akustischen roten Faden bildet ein Singkreis. Neben Kirchenliedern stimmt der Frauenchor immer wieder auch bairische Volkslieder an, ansonsten erklingt nur gelegentlich eine gezupfte Gitarre.
Die Bildgestaltung durch Geschonnecks bevorzugten Kameramann Theo Bierkens ist genauso düster wie die Geschichte. Das überschaubare Tempo der beiden Filme entspricht dem des Pferdefuhrwerks, mit dem Heingeiger senior als Bürgermeister durch die Gegend zuckelt. Hin und wieder erlauben die Aufnahmen einen Blick aufs Alpenpanorama, aber ansonsten sorgen die Bilder mit ihren fahlen Farben und die Innenaufnahmen mit viel Dunst in der Luft für eine betont freudlose Atmosphäre. Kleine Momente des Glücks sind rar, sie beschränken sich auf die Besuche von Elies (Verena Altenberger). Die unverheiratete Tochter des Bürgermeisters kümmert sich um den Haushalt des Schusters; die Szenen mit Kraus und ihrem unehelichen kleinen Sohn gehören zu den schönsten des Films.
Elies bietet sich dem Schuster als Gattin an, damit der Junge einen Vater hat, doch ihr schurkischer Bruder hat andere Pläne. Spätestens jetzt wandelt sich "Sturm kommt auf" zur Tragödie, obwohl Kraus zunächst vom Glück geküsst wird: Er kommt unverhofft in den Besitz einer beträchtlichen Erbschaft. Ausgerechnet der Reichtum besiegelt jedoch sein früh erahntes Schicksal: "Unsereins zahlt immer drauf am Ende." Für Hader ist der Stoff jedoch aus einem anderen Grund aktuell. "Die Unversöhnlichkeit der politischen Lager in der Zwischenkriegszeit, die gelähmte Demokratie, die Sehnsucht nach großen Führern: Das alles wiederholt sich gerade auf gespenstische Weise."




