Eine arglistige Täuschung kann strafrechtliche Konsequenzen haben, wenn der getäuschten Person ein tatsächlicher Schaden entsteht. Das ist bei einer TV-Produktion in der Regel auszuschließen. Selbst wenn dieser Zweiteiler mit knapp 180 Minuten zu lang geraten ist: Zeitverschwendung ist nicht justiziabel. Die arglistige Täuschung wiederum ist in diesem Fall sehr willkommen: weil es Benjamin Benedict (Buch und Produktion) sowie Jörg Lühdorff (Buch und Regie) tatsächlich gelingt, ein krimiversiertes Publikum über weite Strecken an der Nase ’rumzuführen.
"Einsame Nacht", wie auch die beiden letzten Charlotte-Link-Verfilmungen mit Henny Reents und Lucas Gregorowicz ("Die Suche", 2021; "Ohne Schuld", 2024) im Norden Yorkshires angesiedelt, beginnt mit einer widerwärtigen Tat: Ein korpulenter junger Mann öffnet arglos die Haustür und wird kurz drauf auf übelste Weise malträtiert. Gerade noch hat er ein Lied gesungen, nun integriert Oliver Biehler die Melodie (wie auch am Schluss von Teil eins) in die Filmmusik.
Die Komposition ist aufgrund ihrer Wucht in den folgenden drei Stunden mitunter fast zu präsent, aber sehr hörenswert. Aus dem Off sagt eine weibliche Frauenstimme: "Verzeihen ist die beste Rache, heißt es, aber das ist falsch, lächerlich falsch. Es gibt Dinge, die nicht zu verzeihen sind."
Wie sich bald darauf zeigt, ist der Auftakt eine Rückblende. Zehn Jahre später liegt Alvin Mallory immer noch im Koma. Bis heute hat Caleb Hale nicht verwunden, dass er diesen Fall nie klären konnte. Mittlerweile ist der frühere Chefinspektor Alkoholiker und aus dem Polizeidienst ausgeschieden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Seine ehemalige Partnerin Kate Linville hat eine neue Chefin (Helena Grass), die ihr strikt jeden beruflichen Kontakt zu Caleb untersagt, dabei könnte Kate seine Hilfe gut brauchen: Als eine Frau erstochen in ihrem Auto entdeckt wird, finden sich am Tatort die gleichen Fingerabdrücke wie einst im Haus der Mallorys. Der Mord ist jedoch nur der Auftakt zu einer Serie, in deren Mittelpunkt die junge Altenpflegerin Mila Henderson steht: Wo immer sie auftaucht, gibt es eine Leiche.
Die Krimiebene bildet jedoch nur den Handlungsrahmen für eine Geschichte, die vor allem durch die Verschränkung mit der Vergangenheit fesselt. Lühdorff hat diese Rückblenden in ein warmes Licht getaucht (Bildgestaltung: Philipp Timme), das in kräftigem Kontrast nicht nur zur eher tristen Gegenwart, sondern auch zu den Ereignissen steht: Ein Junge ist wegen seines starken Übergewichts das Gespött der Klasse. Eines Tages verliebt er sich in eine neue Mitschülerin. Als Mila Henderson ihm klar macht, dass sie nichts für ihn empfindet, entwickelt er einen zügellosen Hass, der fortan all’ sein Denken und Tun bestimmt.
Neugier ist der Motor jedes Krimis. Hier gilt das vor allem für die Frage, wie Gegenwart und Vergangenheit miteinander zusammenhängen; Lühdorff beantwortet sie mit einem ebenso kühnen wie verblüffenden Übergang. Dass die Ermittlerin am Ende selbst in Gefahr gerät, sorgt für zusätzliche Reiz. Aus dem Rahmen fällt allein der Ex-Kollege: Caleb ist alles andere als ein strahlender Held und daher keine nennenswerte Hilfe, aber auch das macht die Sache nur noch interessanter.
Angesichts der komplexen, clever konstruierten und mehrfach verblüffenden Handlung kann es sich Lühdorff sogar leisten, Milena Tscharntke, hier regelrecht enthübscht, erst im letzten Akt den Raum zu gewähren, der ihr gebührt, denn Mila Henderson der eigentliche Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte. Viel mehr Spielzeit bekommt gerade im ersten Film jedoch Lara Feith, die ihre Rolle über weite Strecken als Reh im nächtlichen Scheinwerferlicht anlegt: Die psychisch labile Anna Carter arbeitet für eine Dating-Agentur, die Veranstaltungen für Singles anbietet. Die ermordete Frau war in ihrem Kochkurs, aber Anna hat auch eine überraschende Verbindung zu Alvin.
Dass "Einsame Nacht" trotz des langen fesselnden Finales nicht rundum überzeugt, hat nicht nur mit der Überlänge zu tun. Viele der regelmäßig erklingenden Off-Kommentare sind überflüssig, erst recht, wenn Kate zusammenfasst, was das Publikum gerade mit eigenen Augen gesehen hat. Oft sind die inneren Monologe zudem nicht gut gesprochen. Auch die Übersetzung der einheimischen Mitwirkenden klingt mit ihren sinnfreien Kunstpausen allzu sehr nach Synchrondeutsch, und wenn eine Hand in Großaufnahme erst zur Faust geballt wird und später gleich zweimal wütend einen Stift zerbricht, wirkt das nicht nur angesichts der ansonsten sachlichen Inszenierung plump und effekthascherisch. Den zweiten Teil zeigt die ARD morgen.