Der Aufkleber ist uralt, aber die Botschaft ist zeitlos: "Schluck für Schluck kommt man sich näher". Eine Krankenkasse wollte auf diese Weise vor einigen Jahrzehnten auf die Gefahren des Alkohols hinweisen: Zwei Personen stoßen mit ihren Gläsern an, zu sehen sind nur ihre Hände; die eine der beiden gehört einem Skelett. Mark Schlichters Film "Im Rausch" ist nicht ganz so plakativ, aber ähnlich unmissverständlich. Hauptfigur des Drehbuchs, das der Regisseur gemeinsam mit Laila Stieler geschrieben hat, ist eine Journalistin.
Katja Weiss arbeitet für ein Berliner Magazin und hat gerade einen aufrüttelnden Bericht über einen Wohnungsbaukonzern geschrieben, der mit Hilfe der Polizei Mieter aus ihren Sozialbauwohnung entfernen lässt. Der Artikel wird jedoch nicht veröffentlicht: Das Unternehmen ist ein wichtiger Werbekunde des Verlags. Außer sich vor Zorn und nicht mehr nüchtern stellt Katja vor versammelter Redaktion ihre Chefin zur Rede; es kommt zu einem Eklat, in dessen Verlauf sie zu allem Überfluss eine Kollegin verletzt, und zur Kündigung.
Mit dieser Szene beginnt eine Abwärtsspirale, die erst endet, als die Reporterin ganz unten angelangt ist und endlich zur Besinnung kommt: Katja (Friederike Becht) ist Alkoholikerin, was sie sich jedoch nicht eingestehen will. Chefredakteurin Simone (Anne Ratte-Polle) ist auch ihre Partnerin und bittet sie inständig, sich Hilfe zu holen; einen Termin hat sie bereits ausgemacht. Obwohl die Fragen der Psychologin (Antje Traue) keinen Zweifel an der Sucht lassen, will Katja keine stationäre Entgiftung mit anschließender Therapie. Sie ist überzeugt, dass sie den Teufelskreis auch allein durchbrechen kann, und tritt die Flucht nach vorn an: Sie schlägt Simone eine Reportage über Alkoholismus vor.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Chefin stimmt zu und bittet sie, im Rahmen der Recherche ein Interview mit einem betroffenen "Promi" zu führen. Schlichter und Stieler erzählen die Geschichte in ihren erschütternden Facetten so wirklichkeitsgetreu wie möglich und schicken die jederzeit glaubwürdige Hauptdarstellerin in alle möglichen Abgründe. Für besondere Authentizität sorgt jedoch ein Gast: In einer Drehpause nimmt sich Katrin Sass Zeit für ein Gespräch mit Katja, aber die Journalistin kommt kaum dazu, Fragen zu stellen, denn die seit 25 Jahren trockene Schauspielerin erkennt auf den ersten Blick die Seelenverwandtschaft.
Selbst diese Begegnung kann Katjas Absturz nicht aufhalten. Das liegt auch und vor allem an Eddi Sommer (Hans Löw). Der führt unter dem Namen Ed Wood ein Unternehmen, das hochwertige Fenster und Türen herstellt. Im festen Glauben an einen lukrativen Auftrag hat er teure Maschinen anschafft, aber Baulöwe Kaltenbach (Heikko Deutschmann) treibt ein mieses Spiel mit ihm. Alkoholiker Eddi wird angesichts des drohenden Ruins rückfällig und setzt damit nicht nur die Firma, sondern auch seine Ehe aufs Spiel. Katja und er begegnen sich zufällig, verlieben sich, trinken zusammen und geraten nun gemeinsam in einen Strudel, der für beide schließlich ein fatales Ende zu nehmen droht.
Friederike Becht und Hans Löw spielen diese Szenen, in denen sie das Leben leidenschaftlich und in vollen Zügen genießen, ungemein überzeugend: wie zwei Ertrinkende, die sich aneinander klammern und sich auf diese Weise erst recht gegenseitig in den Tod ziehen. Aber auch vor der ersten Begegnung, als Katja noch überzeugt ist, jederzeit mit dem Trinken aufhören zu können, schildern Schlichter und Stieler sehr nachvollziehbar, wie sie immer weiter abstürzt. Dass die Handlung so realitätsnah wirkt, hat einen Grund: Schlichter hat viele eigene Erfahrungen ins Drehbuch einfließen lassen, darunter auch jene Szene, in der Katja die Reste aus mehreren Flaschen in ein Glas schüttet, das sie anschließend leert.
Zwischendurch hält die Journalistin den Stand der Dinge mit Hilfe eines Videotagebuchs fest. Die Gespräche mit Eddi zeichnet sie ebenfalls auf, was gegen Ende, als sie halb im Delirium Simone den Laptop mit ihren Recherche-Ergebnissen überlässt, zu einem erheblichen Vertrauensbruch führt. Der Rest ist Suff, nicht selten bis zur Besinnungslosigkeit. Dass "im Rausch" dennoch kein durchgehend deprimierendes Drama geworden ist, liegt einerseits an Schlichters Inszenierung, andererseits aber trotz allem auch an der Handlung: Als Katja auf der Straße kollabiert und von Menschen mit ausdruckslosen weißen Masken umgeben ist, reicht sie sich selbst die Hand. Der Arbeitstitel des Drehbuchs lautete "Hoffnung", und tatsächlich ist das Finale, als es um Leben und Tod geht, nicht das Ende der Liebesgeschichte.