"Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand", heißt es. Aus Sicht all’ jener, die sich für eine angeblich begangene Straftat verantworten müssen, bedeutet das nichts Gutes, denn am Ende spricht nicht Gott das Urteil, sondern ein Mensch. Fehlerkultur ist an deutschen Gerichten jedoch nicht sonderlich ausgeprägt.
Die Zahl der tatsächlichen Fehlurteile lässt sich nur schätzen, denn abgesehen von den Angeklagten und deren Angehörigen hat kaum jemand ein Interesse an einem Wiederaufnahmeverfahren, erst nicht die Staatsanwaltschaft oder die Polizei; niemand lässt sich gern unzureichende oder gar schlampige Ermittlungen nachweisen. Einige der prominentesten Justizirrtümer sind auch verfilmt worden, darunter die Fälle Harry Wörz (1998) oder Gustl Mollath (2006). Bis heute ungeklärt ist dagegen der Fall Vera Brühne (1962), seinerzeit ein Medienspektakel sondergleichen.
Sven Halfars Drehbuch basiert zwar nicht auf einem authentischen Fall, dokumentiert aber dennoch eine typische Ursache für ein Fehlurteil: weil wie bei Brühne, Wörz oder Mollath vermeintlich von vornherein klar ist, wer die Tat begangen hat. Der Film beginnt daher, wie andere enden: Der Erfurter Internatslehrer Hajo Rick wird wegen sexuellen Missbrauchs und Ermordung seiner fünfzehnjährigen Schülerin Alexandra Tietze zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil basiert allein auf Indizien und belastenden Aussagen; die Leiche ist nicht gefunden worden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das ist nun fünf Jahre her, als Sporttaucher in einem See ein Auto entdecken. Im Kofferraum finden sich Alexandras sterbliche Überreste. Das allein würde jedoch noch keine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen: An der Indizienlage ändert der Fund erst mal nichts. Immerhin fragt sich Kommissar Kai Matzen (Karsten Antonio Mielke), ob er damals einen Fehler begangen hat. Staatsanwalt Schmidt (Harald Krassnitzer) wiegelt ab. Der Jurist steht kurz vor der Pensionierung, ein Freispruch für Rick wäre sicher nicht der Abschied, den er sich wünscht, aber zum Glück für Rick ist kurz zuvor eine Strafverteidigerin mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit nach Erfurt zurückgekehrt.
Schon allein die Besetzung Sophia Dreyers mit Petra Schmidt-Schaller ist ein personifizierter Hoffnungsfunken für den Lehrer. Den wiederum spielt Lasse Myhr, in dessen Filmografie sich auch einige Schurken tummeln; auf diese Weise bleibt zumindest der Schatten eines Zweifels. Die Gefängnisszenen sind in kühlem Blau gehalten, die Rückblenden ein bisschen farbentsättigt, aber ansonsten hat Maris Pfeiffer das Drehbuch wie die meisten ihrer Reihenkrimis weitgehend ohne nennenswerte gestalterische Akzente umgesetzt. Neben der fesselnden Handlung gleichen das vor allem die Mitwirkenden buchstäblich spielend wieder aus.
Gerade Schmidt-Schaller und Mielke bilden ein prima Team, zumal ihre Figuren jeweils eine Vorgeschichte mitbringen. Das gilt vor allem für Matzen: Das Auto gehört seinem früheren Freund Leo Winter (Stefan Rudolf), der Wagen ist ihm in der Nacht von Alexandras Verschwinden gestohlen worden. Heute ist Winter mit der Ex-Frau des Polizisten liiert. In einer von vielen amüsanten kleinen Szenen wirft Matzen im Büro einen Pfeil in Richtung einer Dartscheibe, trifft aber das auf einer Korkpinnwand befestigte Konterfei Winters. Absicht oder Zufall? Wer weiß.
Darüber hinaus ist nahezu jede Begegnung des Kommissars mit der Juristin von still vermittelter Zuneigung geprägt; die Dialoge gehen zum Teil in Richtung romantische Komödie. Weil Schmidt-Schaller und Mielke mit kleinem Aufwand große Wirkung erzielen, fällt der von Hubertus Hartmann allzu antagonistisch verkörperte verbitterte Vater des Opfers umso deutlicher aus dem Rahmen; ein unübersehbarer früher Fingerzeig, dass auch Tietze vorübergehend zum Kreis der Verdächtigen gehören wird.
Andere Nebenebenen sind ungleich harmonischer in die sorgfältig entworfene Handlung integriert, etwa Sophias Beziehung zur heutigen Internatsleiterin (Dennenesch Zoudé); die Juristin war einst ebenfalls auf der Schule. Gegen Ende stellt sie fest, dass die Polizei damals noch "falscher" lag als zunächst vermutet. Potenzial für weitere Filme hat auch Sophias Beziehung zur erwachsenen Tochter (Sidney Fahlisch), hier wirft Halfar einige Köder für eine Fortsetzung aus, von einer möglichen Romanze zwischen der Anwältin und dem Kommissar ganz zu schweigen; der Titelvorsatz "Im Namen der Wahrheit" klingt ja ohnehin nach Reihen. Wie immer in solchen Fällen will die ARD-Tochter Degeto aber erst mal abwarten, wie gut "Traue niemandem" ankommt.