"Mens" ist das lateinische Wort für Verstand. "Demenz" heißt daher nichts anderes als "ohne Verstand". Filmisch spielte die Krankheit lange Zeit kaum eine Rolle, aber seit gut zwanzig Jahren befassen sich Dramen und Tragikomödien regelmäßig mit Menschen, denen das Gedächtnis ständig Streiche spielt. Mit "Tödliche Schatten" bereichert Autor Christoph Busche das Genre um eine völlig neue Spielart. Der Krimi erzählt die Geschichte eines Berliner Kommissars, der unter zunehmenden Wahrnehmungsstörungen leidet.
Er hat immer wieder kleine Aussetzer, die der Film optisch und akustisch durch kaum merkliche Verzerrungen andeutet. Philip Nabrow (Walter Sittler) glaubt, dass niemand merkt, wie es um ihn steht; dabei ist er längst nicht mehr diensttauglich. Tochter Elisa (Hannah Ehrlichmann) spürt zwar, dass irgendwas nicht stimmt, aber wie krank ihr Vater wirklich ist, wird ihr erst klar, als sie in seinem Notizbuch die Sätze "Keitel ist mein Chef" und "Elisa ist meine Tochter" liest.
Das allein ist schon eine reizvolle Basis für eine Geschichte, zumal Busche diese Ebene durch die enge Beziehung verstärkt: Elisa verehrt ihren Vater, der stets einen klaren Kompass hatte. Sie ist ebenfalls Kommissarin geworden und möchte vom Drogendezernat zur Mordkommission wechseln. Als ein Kollege erstochen wird, führt die Spur in den Boxclub der Polizei. Elisa hat schon länger den Verdacht, dass dort mit verbotenen Substanzen gehandelt wird, und macht ihrem Vater ein Angebot, dass er nicht ablehnen kann.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Entweder bezieht er sie in die Mordermittlung mit ein, oder sie erzählt Keitel (Uwe Preuss) von den Aussetzern. Als beim Boxclub ein weiterer Streifenpolizist erschossen wird, gerät Elisa zunehmend in ein Loyalitätsdilemma: Kurz vor dem Schuss war der Vater noch an ihrer Seite, dann nicht mehr; und warum ist die Tatwaffe vom ersten Mord in seinem Besitz?
Die Geschichte ist faszinierend, aber endgültig zu einem besonderen Film wird "Tödliche Schatten" durch Alexander Dierbachs Inszenierung. Der Regisseur hat gemeinsam mit Kameramann Ian Blumers eine Atmosphäre geschaffen, die zuweilen verstörende Züge annimmt. Bereits die Auftaktszene ist große Gestaltungskunst: Aus der Dunkelheit eines offenbar leerstehenden Gebäudes zeigt das Bild durch zwei Türöffnungen hindurch eine Figur, die in weiter Ferne wie am Horizont Klavier spielt. Fast unmerklich bewegt sich die Kamera auf die Gestalt zu, aber die Fahrt wird durch irritierende Zwischenschnitte unterbrochen.
Dann erwacht der Schläfer, setzt sich ans Klavier und spielt die Tonfolge aus dem Albtraum, dessen Bilder er nicht loswird. Nabrow führt seine Aussetzer auf diese Schlafstörungen zurück, aber ein Neurologe konfrontiert ihn mit der bitteren Wahrheit: Er leidet unter vaskulärer Demenz; eine Vielzahl winziger Schlaganfälle zerstört nach und nach sein Gehirn.
Als wäre all’ das nicht genug, leidet der Kommissar anscheinend auch noch unter Verfolgungswahn. "Wer ist diese Frau?", liest Elisa neben einer Zeichnung in dem Notizbuch. Die Paranoia offenbart sich, als Nabrow nach dem zweiten Mord, einer Eingebung folgend, in Richtung S-Bahnstation eilt, dort die fremde Frau erblickt – und in eine Art Katatonie verfällt. Und dann droht ihn auch noch ein Makel aus der Vergangenheit einzuholen; so lässt sich zumindest eine düstere Bemerkung seines Freundes und Vorgesetzen interpretieren.
Dierbach und Blumers illustrieren die dunkle Seite des Ermittlers mit Hilfe eines cleveren Spiegeleffekts. Fabian Römer, ohnehin einer der besten seines Fachs, unterlegt die Szenen mit genau der richtigen Mischung aus spannungssteigernden Kompositionen und sanften Pianopassagen. Für Walter Sittler ist dieser Nabrow, dessen Träume immer größeren Einfluss auf seine subjektive Realität nehmen, eine tolle Rolle, wobei er die Abgründigkeit gar nicht ausspielen muss; das besorgen die Bilderfetzen aus der Albtraumwelt.
Nur auf den ersten Blick mutig war dagegen die Entscheidung, den erfahrenen Schauspieler mit einer kaum bekannten Kollegin zu kombinieren, zumal Hannah Ehrlichmann nicht den Fehler begeht, Sittlers kontrolliertes Spiel mit zu viel Emotionalität zu konterkarieren. Auch die Inszenierung setzt eher auf subtilen Nervenkitzel, obwohl Dierbach mit einigen vorzüglichen "Helen Dorn"-Episoden gezeigt hat, wie gut er das Thriller-Metier beherrscht. Selbst das Finale, als Nabrow zu spät klar wird, welchen verhängnisvollen Fehler er begangen hat, ist vergleichsweise zurückhaltend umgesetzt. Schauplatz ist selbstverständlich das Gebäude aus den Träumen; sinnigerweise eine seit Jahrzehnten leerstehende ehemalige Psychiatrie.