Deutschland könne nicht auf die atomare Teilhabe verzichten, sagte Haspel, der systematische Theologie an den Universitäten Erfurt und Jena lehrt, dem Evangelischen Pressedienst. Bei der atomaren Teilhabe Deutschlands sei eher die Frage, ob die US-Regierung daran festhalte.
Ethisch handele es sich hier um eine "dirty hand situation" (schmutzige-Hand-Situation), erklärte Haspel: Einerseits sei der Besitz von Atomwaffen wegen ihrer verheerenden Wirkung nicht zu rechtfertigen, andererseits "sehe ich nicht, dass wir kurzfristig herauskommen: Wir brauchen eine glaubwürdige Abschreckung. Das ist die Lehre aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine seit 2014." Wenn ein Aggressor nicht mit Gegenwehr rechne, werde er zum Krieg ermutigt.
Die in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bislang gültige Friedensdenkschrift von 2007 formuliert, dass die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden könne. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 arbeitet eine Redaktionsgruppe der EKD an einer Neuformulierung der Friedensethik.
Pazifismus taugt nicht als politische Ethik
"Hiroshima soll nie wieder passieren", bekräftigte Haspel. "Aber ob der Weg über einen einseitigen Verzicht auf Atomwaffen wirkt gegenüber revisionistischen Mächten, die zu kriegerischen Mitteln bereit sind, stelle ich infrage."
Der pazifistische Impuls im Christentum sei wichtig, um daran zu erinnern, dass Gewalt immer problematisch sei, sagte der Theologe. Pazifismus sei als eine individuelle Entscheidung christlich völlig legitim. Er könne aber nicht als politische Ethik dienen, die Verantwortung fürs Gemeinwesen übernimmt. "Es wäre eine Katastrophe für das europäische Sicherheitssystem, wenn Staaten ungestraft Gewalt anwenden könnten und die Opfer ohne Hilfe blieben."
Internationales Recht ist geschwächt
Die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 hat sich nach den Worten Haspels mit dem Leitbild des gerechten Friedens im Kern bewährt. Zur Konfliktbewältigung sollten demnach gewaltfreie Mittel den Vorrang vor militärischen genießen und das Völkerrecht internationale Konflikte regulieren.
Einige Punkte müssten aber neu oder erstmals bedacht werden, führte der Theologe an. Angesichts einer Situation, in der die Weltmächte Russland, China und USA sich nicht mehr an internationales Recht hielten oder es beschädigten, werde die Leistungsfähigkeit des internationalen Rechts in der Denkschrift überschätzt.
Der neue Drohnenkrieg müsse berücksichtigt werden sowie die hybride Kriegsführung, also digitale Angriffe auf die Infrastruktur, die Beeinflussung von Wahlen und die Desinformation auf Social Media mit dem Ziel der Destabilisierung. Nach christlicher Ethik müsse die Fähigkeit zur Verteidigung und Abschreckung gestärkt werden, dabei sollte jede Aufrüstung immer mit einem Angebot zur Rüstungskontrolle und Abrüstung verbunden werden. Daneben müssten auch zivile Methoden der Konfliktbearbeitung wie Diplomatie und Friedensdienste gestärkt werden, resümierte Haspel: "Friedensethik und Sicherheitspolitik gehören zusammen."