Irgendwann endet jede Kindheit; bei einigen früher, bei anderen später. Nicht selten sorgt ein Schicksalsschlag dafür, dass es mit der Unbefangenheit von einem Tag auf den anderen vorbei ist. Davon kann in dieser schmerzlich-schönen Verfilmung des Romans von Mariana Leky zunächst jedoch keine Rede sein, selbst wenn der Tod von Anfang an präsent ist.
Wenn Oma Selma von einem Okapi träumt, gibt es tags drauf zuverlässig einen Todesfall. Weil völlig offen ist, wen es treffen wird, bricht prompt eine leichte Panik aus, als es wieder mal soweit ist. Diesmal jedoch scheint es das Schicksal gut zu meinen mit dem Westerwald-Dorf: Mitternacht ist vorüber, und alle leben noch; aber manchmal hat der Tod bloß Verspätung.
Erzählerin der Geschichte ist Luise (Luna Wedler). Sie ist Anfang zwanzig, arbeitet in einer Buchhandlung und hat eine etwas lästige Eigenschaft: Sagt sie das Gegenteil von dem, was sie denkt, ereignen sich in ihrer Umgebung merkwürdige Dinge; meist fällt irgendwas runter. Sie lebt bei ihrer Großmutter (Corinna Harfouch), einer früh verwitweten klugen Frau mit großem Herzen. Ein Okapi ist Selma schon lange nicht mehr erschienen; genau genommen seit dreizehn Jahren.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
In Luises Kindheit trägt sich zunächst der größere Teil der Handlung zu: Gemeinsam mit ihrem besten Freund Martin, der fest entschlossen ist, sie eines Tages zu heiraten, erlebt die kleine Luise allerlei Begebenheiten mit den zum Teil recht wunderlichen Mitmenschen, die die erwachsene Luise zu Beginn vorstellt; darunter die angebliche traurige, in Wahrheit aber bloß notorisch schlecht gelaunte Marlies (Rosalie Thomass) oder Martins von archaischem Zorn erfüllter trunksüchtiger Vater (Peter Schneider).
Liebenswerteste Figur des Films, abgesehen von den Kindern natürlich, ist der namenlose Optiker (Karl Markovics). Er ist Selma schon seit vielen Jahren in stiller Zuneigung ergeben, traut sich jedoch nicht, ihr seine Gefühle zu gestehen. Nahezu allabendlich versucht er, ihr einen entsprechenden Brief zu schreiben, doch nicht mal das klappt, zumal die ständig streitenden Stimmen in seinem Kopf keine große Hilfe sind. Und so könnten die Jahre unbeschwert ins Land gehen, aber "Was man von hier aus sehen kann" ist eben nicht nur eine Geschichte von Liebe, sondern auch vom Tod.
Aaron Lehmann (Buch und Regie) hat eine ganz spezielle Art, solche Geschichten zu erzählen. Seit seinem witzigen Kinodebüt "Kohlhaas" (2012, über das Scheitern eines Filmprojekts) hat er ausschließlich besondere Filme gedreht: "Die letzte Sau" (2016) zum Beispiel war eine Tragikomödie mit Golo Euler als Kleinbauer, der ungewollt eine Revolution auslöst. Die romantische Komödie "Das schönste Mädchen der Welt" (2018, mit Luna Wedler) war eine originelle Variation von "Cyrano de Bergerac". Jagdsaison" (2022, mit Rosalie Thomass) war ein Gute-Laune-Film, der den Vergleich mit Hollywood-Vorbildern nicht zu scheuen brauchte.
Mit "Was man von hier aus sehen kann" bestätigt Lehmann seine Sonderstellung, und das nicht nur wegen seiner vorzüglichen Arbeit mit dem Ensemble; die Schweizerin Luna Wedler ist spätestens seit "Je suis Karl" (2021) sowieso nicht mehr aus deutschen Produktionen wegzudenken. Die beiden Kinder (Ava Petsch, Cosmo Taut) sind ebenfalls ausgezeichnet geführt. Zeitlos schön ist der Film nicht zuletzt auch im Wortsinne. Die Rückblenden könnten in den Siebzigerjahren spielen, in denen das Leben auf den Dörfern noch sehr von den Sechzigern geprägt war.
Damals scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, denn die Gegenwart sieht kaum anders aus; auf der Bahnstrecke verkehrt noch der gleiche Schienenbus wie in Luises Kindheit. Sie ist natürlich älter geworden, der Martins Prügelvater hat mittlerweile zu Gott gefunden, aber die anderen haben sich nicht verändert. Immerhin tut sich was im Dasein der Heldin, als Frederik (Benjamin Radjaipour) in ihr Leben tritt. Dummerweise ist der junge Mann nur auf der Durchreise.
Er will den Rest seines Lebens in einem buddhistischen Kloster verbringen.
Durch die vielen Sprünge nicht nur zwischen den beiden Zeitebenen unterbricht Lehmann den Handlungsfluss immer wieder mutwillig, doch nach dem traumatischen Kindheitserlebnis wird die erwachsene Luise in der zweiten Hälfte endgültig zur zentralen Rolle. Die Bildgestaltung mit ihren gedeckten Farben (Christian Rein) und das Szenenbild (Eva Stiebler) sind gleichfalls sehenswert. Letztlich zeichnet sich der Film neben der optischen Vielfalt jedoch vor allem durch die Warmherzigkeit aus, mit der Lehmann diese Geschichte erzählt, die als Komödie beginnt, zur Tragödie wird und schließlich als Romanze endet.