Mit "Circus Inclusioni" Welt hinterfragen

Der Beschwerdechor Heidelberg vor einem Zirkuszelt
Christoph Zimmermann
Rollstuhlfahrer und Blinde präsentieren mit dem Programm "Circus Inclusioni" ihr Erleben.
Beschwerdechor in Heidelberg
Mit "Circus Inclusioni" Welt hinterfragen
Das neue "Normal" beim Beschwerdechor in Heidelberg ist die Behinderung. Inklusion brauchen die anderen, die im Zuschauerraum sitzen. Mit seinem Programm "Circus Inclusioni" stellt der Chor bestehende Gewissheiten auf den Kopf.

Stimmengewirr und Gelächter beim Betreten der Individualhilfe im Heidelberger Stadtteil Wieblingen: die Sängerinnen und Sänger haben im Halbkreis Platz genommen - einige im Rollstuhl, andere haben Krücken oder einen Rollator dabei. Der Beschwerdechor Heidelberg, in dem Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam singen, probt sein Programm "Circus Inclusioni".

Seine Lieder präsentiert der Chor unter anderem als komplettes Abendprogramm im Stil einer Zirkusaufführung, eben dem "Circus Inclusioni". "Chorgesang an sich ist langweilig, weil jeder versucht, "schön" zu singen", meint der künstlerische Leiter und Erfinder des Zirkusprogramms, Bernhard Bentgens. "Das machen wir anders und singen teilweise absichtlich "schräg", sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd).

So treten beim "Circus Inclusioni" Zauberer, Tänzer und Clowns mit Handicap auf. Die kleinwüchsige Sabine Papp und Michaela Schadek im Rollstuhl führen als Zirkusdirektorinnen durch das Programm. Die Raubtiernummer erlebt das Publikum in abgedunkelter Manege als Erzählung und wird somit in die Welt eines blinden Menschen versetzt.

"Bei der Aufführung müssen die Zuschauer inkludiert werden", erklärt der studierte Kirchenmusiker, "nicht die behinderten Menschen." Spiele und eine Verlosung in der Pause setzen die "Inklusion" der Zirkusbesucherinnen und -besucher fort. Als Hauptpreis winke die "Vollinklusion", so Bentgens, wer ihn gewinne, dürfe beim nächsten Auftritt mitsingen.

"Es geht uns nicht nur ums Singen, wir haben auch eine Mission"

Es sind Lieder aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung, die beim Auftritt des Heidelberger Beschwerdechores erklingen. Titel wie "Blindenstockgeklingel", "Vorsicht Stufe" oder "Es ist alles viel zu hoch" spielen auf das Erleben von Blinden, Menschen, die im Rollstuhl sitzen oder kleinwüchsig sind, an. Die "Liedtexte mit Augenzwinkern" senken beim Publikum die Hemmschwelle miteinander ins Gespräch zu kommen.

Das neue "Normal" beim Beschwerdechor in Heidelberg ist die Behinderung.

"Es geht uns nicht nur ums Singen, wir haben auch eine Mission," betont Schadek. "Wir wollen auf die Problematik von Menschen mit Behinderung aufmerksam machen", sagt die Geschäftsführerin der Individualhilfe Heidelberg, die selbst seit ihrer Geburt im Rollstuhl sitzt. Aufklärung komme mit Humor besser an, ist sie überzeugt.

"Es hat uns so viel Spaß gemacht, dass wir weiter machen wollten"

Seinen Anfang nahm der Chor 2014 beim Freiwilligentag der Metropolregion Rhein-Neckar. Etwa 30 Menschen folgten dem Aufruf des Beirats von Menschen mit Behinderung der Stadt Heidelberg und nahmen an dem Workshop "Beschwerdechor" teil. "Es hat uns so viel Spaß gemacht, dass wir weiter machen wollten", erinnert sich die Mitbegründerin Michaela Schadek.

Beschwerdechöre sind gemischte Laienchöre, die alltägliche Mühsale musikalisch und gesanglich aufgreifen. Die kunstvolle Art des Lamentierens gibt es weltweit. 2005 wurden die ersten Beschwerdechöre in Birmingham und 2006 in Helsinki, Hamburg und St. Petersburg gegründet.

Gesangserfahrung ist denn auch beim Heidelberger Beschwerdechor keine Voraussetzung, um mitzusingen. "Viele können keine Noten lesen", weiß Schadek. "Von uns erwartet keiner eine große Gesangsleistung, wir sind einfach komisch", sagt sie. Komisch und befremdlich mag das Publikum die Darbietungen finden. Denn die Sängerinnen und Sänger reißen auch Witze über die körperliche Behinderung selbst, etwa wenn zwei Blinde zueinander sagen: "Mensch, guck mal!".

Der Lacher gelte nicht dem Menschen, sondern der Situation, erläutert Schadek. So gleicht die Probe des Heidelberger Beschwerdechores mehr einem Familientreffen als einer ernsten Chorprobe. Der Gesang wird ernst, aber nicht bierernst genommen, wenn der akademisch ausgebildete Chorleiter, Bentgens, in "Entertainer-"Manier sagt: "Wir hatten das schon mal schlechter." Ja, ein Zirkusprogramm, bei dem gesungen und beschwert wird, ist alles andere als öde: es ist bunt, schillernd und interessant.