Als Tonia Bothe mit ihrem Sohn seinen 18. Geburtstag feiert, wird es plötzlich ernst. Unvermittelt sagt er ihr: "Mama, ich habe Angst, dass du bald stirbst, wenn du so weitermachst." Ein denkwürdiger Moment für die heute 53-jährige Bremerin, die damals 136,5 Kilogramm auf die Waage brachte. "An diesem Punkt war mir klar: Du musst was machen, sonst behält er Recht." Wer sich Fotos von Tonia Bothe von Anfang 2024 anschaut und ihr heute begegnet, denkt unwillkürlich an eine schlechte Retusche. Dabei sitzt ein und derselbe Mensch vor einem - nur mit halb so viel Körpergewicht.
Bis zu ihrem 13. Lebensjahr war Tonia Bothe dünn, erinnert sie sich. "Dann hat mein Vater, als er die Familie verließ, meinen Bruder und mich allein in der Wohnung zurückgelassen - mit leerem Kühlschrank. Es war ein Wochenende, die Geschäfte hatten geschlossen, und wir wollten aus Scham nicht bei den Nachbarn um Essen betteln."
Ein traumatischer Moment, der nachwirkte: "Danach hatte ich in jeder Ecke meiner Wohnung Essen gebunkert, selbst in der Sockenschublade." Ständig kämpfte Tonia Bothe seitdem mit ihrem Gewicht: "Ich wurde dick, nahm zwischendurch wieder etwas ab, dann wieder kräftig zu, immer im Wechsel. Dabei habe ich Sport gemacht, vom Formationstanz bis zum Reiten."
Zwölf Knie- und Bein-Operationen
Das Gewicht wurde zum Lebensthema. Nach zwei Scheidungen kam ein neuer Partner, den sie rückblickend einen "Fütterer" nennt: "Der fand mich nicht attraktiv, wenn ich versuchte, abzunehmen. Dann hat er Gas gegeben, besonders üppig gekocht und gebacken. Irgendwann war der Höchststand mit über 136 Kilo bei 1,67 Meter Körpergröße erreicht."
Ihre gesundheitliche Situation war bedrohlich: "Ich war schon lange Typ 2-Diabetikerin, hatte seit Ewigkeiten mit Bluthochdruck zu kämpfen und bin die letzten fünf Jahre am Rollator gelaufen." Seit 2015 musste sie sich zwölf Knie- und Bein-Operationen unterziehen. "Durch mein Übergewicht war da viel zu viel Druck drauf."
Missbilligende Blicke angesichts der Körperfülle, ob beim Arzt oder in der Freizeit - wer übergewichtig ist, kennt die Sprüche zur Genüge: "Weniger essen, mehr bewegen, dann läuft das schon." Das beginne schon in der Kita, weiß Natalie Rosenke, Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung mit Sitz in Berlin: "Dicke Menschen haben ständig das Gefühl, sie müssen ihre eigene Existenz rechtfertigen." Und sie kritisiert: Anstatt hohes Gewicht als Teil der menschlichen Vielfalt zu akzeptieren, werde Dünnsein als Lebensziel und Leistung vermittelt.
Den Tag hat sie sich genau gemerkt
Weniger essen, mehr bewegen: Bei Tonia Bothe, wie bei vielen anderen Betroffenen von Adipositas, funktionierte das nicht. Eine Diabetologin regte schließlich an, eine Magen-Bypass-Operation machen zu lassen. Am 12. März 2023 war sie zu einer ersten Untersuchung im Bremer Diakonie-Krankenhaus bei Oberärztin Elena Junghans, den Tag hat sie sich genau gemerkt. "Ich hatte sofort einen Draht zu ihr. Als ich mit meinem Rollator zaghaft reingefahren kam, hatte ich das Gefühl, mich hier öffnen und erzählen zu können, wie ich meine Situation empfinde." Im Februar 2024 wurde sie operiert.
Ob ein Patient grundsätzlich für eine Adipositas-Operation geeignet ist, wird vorab intensiv von Ärzten verschiedener Fachrichtungen überprüft. Auch ein psychologisches Gutachten gehört dazu. Voraussetzung für einen Eingriff dieser Art ist unter anderem, dass Ernährungsberatung, Bewegungstherapie, Diätmaßnahmen, Gruppentherapie wie eine Selbsthilfegruppe und psychologische Betreuung über mindestens sechs Monate zu keiner Gewichtsabnahme führen. Über Operationsmethoden und auch über sogenannte Abnehmspritzen mit dem Wirkstoff Semaglutid informieren Ärzte und Ärztinnen.
Tonia Bothe hatte nach der OP gleich ein Aha-Erlebnis: "Mein Hungergefühl war und blieb weg. Das war eine echte Befreiung für mich, denn seit meinem 13. Lebensjahr hatte sich bei mir alles um Essen gedreht. Mit dem Eingriff hat es bei mir auch im Kopf Klick gemacht." Die Gier auf Süßes ist sie seit der OP los. "Für mich war es die einfachste OP und sie hat sofort gewirkt."
Der Magen-Bypass war ein Wendepunkt, der ihr Leben umkrempelte, wie sie es beschreibt. "Ich habe mich von meinem Partner getrennt, der als 'Fütterer' ein Teil meines Problems gewesen ist." Nicht nur 67 Kilo eigenes Gewicht ist Tonia Bothe los, sondern auch den Ballast ihrer Beziehung, wie sie im Nachhinein feststellt. "Diese OP war meine Befreiung, die sich in jeder Hinsicht positiv auswirkt. Jetzt kann ich mein Leben 2.0 in vollen Zügen genießen."
Insulinspritzen und Blutdrucksenker gehören für sie der Vergangenheit an. "Und mein Rollator staubt im Keller voll", erzählt sie.
Adipositas-Chirurgin Junghans sieht im Zusammenhang mit den Eingriffen noch viel Aufklärungsbedarf. Statt Patienten zu stigmatisieren, müsse das Unwissen beseitigt werden. "Im Medizinstudium spielt das Thema leider keine große Rolle, es braucht mehr Fortbildungen dazu, wofür Ärztinnen und Ärzten oftmals die Zeit fehlt." Tonia Bothe jedenfalls will ihre neu gewonnene Beweglichkeit nicht mehr missen und gibt ihre Erfahrungen in einer Selbsthilfegruppe anderen Betroffenen weiter: "Ich genieße es, wieder am Leben teilnehmen zu können."
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