Fast einen Monat ist es jetzt her, dass Papst Leo XIV. in sein Amt gewählt wurde. In seiner ersten Rede hat er besonders um Frieden geworben. In den Medien hieß es, Leo habe sehr bewusst das erste Wort gewählt, das der auferstandene Christus zu seinen Jüngern spricht.
Für den Evangelisten Lukas beispielsweise ist der Friede besonders wichtig: Bei Jesu Geburt verkündigen die Engel "Frieden auf Erden" (Lukas 2,14), und der Auferstandene sagt den Jüngern: "Friede sei mit euch!" (Lukas 24,36). Vielleicht könnte es gar zu Friedensverhandlungen im Vatikan selbst kommen.
Wer in Europa wollte nicht, dass der grausame Angriffskrieg Russlands aufhört! Genaue Zahlen hat niemand, aber laut der neuesten Studie dürften bereits 250.000 russische und etwa 80.000 ukrainische Soldaten gefallen sein. Hinzu kommen mindestens 15.000 ermordete ukrainische Zivilisten. Verletzt wurden darüber hinaus über eine Million Soldaten und deutlich über 30.000 Zivilisten. Soll der Westen sich also hinter eine neue Initiative stellen und auf Verhandlungen zwischen Putin und Selenskyj im Vatikan drängen?
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Die Strategie der Verhandler
Papst Franziskus war in verschiedenen Konflikten diplomatisch tätig. Anscheinend hat sein Wirken die Akzeptanz des Friedensschlusses nach dem kolumbianischen Bürgerkrieg gestärkt. Auch hat er dazu beigetragen, dass es zur Aufnahme diplomatischer Kontakte zwischen den USA und Kuba kam. Man sollte sich also nicht von dem "Spiegel"-Artikel beeindrucken lassen, in dem ein Mittelalter-Historiker den neueren Vorstoß von Franziskus’ Nachfolger zum Vorwand nimmt, ausführlich die Verfehlungen der Borgia-Päpste von anno dazumal aufzuzählen. Andererseits genießt der Papst in Ländern wie Kolumbien, den USA und Kuba eine gewisse moralische Autorität, während der Katholizismus in Russland weniger als ein Prozent der Bevölkerung ausmacht und eher als westlich wahrgenommen werden dürfte.
In der "Zeit" haben nun mehrere Journalisten berichtet, Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich arbeiten darauf hin, die Gespräche in Istanbul auszubauen und in neuen Verhandlungen auf einen Waffenstillstand hinzuarbeiten, womöglich gar auf einen Friedensschluss. Hier könnten Papst Leo und der Vatikan ins Spiel kommen. Vermutlich nähme Leo dabei mehr die Rolle des Logistikers ein denn die des Unterhändlers, wie aus dem Vatikan verlautet. Um die Sicherheit zu gewährleisten, hat Georgia Meloni die Hilfe des italienischen Staats zugesagt. Immerhin meint ein Kommentar in der "Süddeutschen", der Vatikan sei "der vielleicht einzige denkbare Vermittler im Ukraine-Krieg ohne eigene militärische, politische, ökonomische Interessen". Die "Zeit" hielt es allerdings für realistischer, dass es in der Schweiz zu Verhandlungen kommt.
Was heißt hier "müssen"?
Der Krieg muss aufhören, Putin muss den Krieg beenden. Entscheidend ist aber die Frage: Wie kann man das erreichen? Der Krieg "muss" aus moralischer und politischer Sicht aufhören. Aber dieses "muss" ist missverständlich: Es klingt so, als ließe Putin sich in Verhandlungen einen Waffenstillstand abringen, bloß weil die Moral das so wolle und wir den Krieg für entsetzlich halten. Aber subjektiv empfindet Putin, dass ein Waffenstillstand überhaupt nicht notwendig ist. Subjektiv steht es für ihn genau andersherum: Sein Land kämpfe für den edlen Zweck, also "müsse" er die Ukraine besiegen, "müsse" er weiterkämpfen. Es hat ja ganz den Anschein, dass Putin an seine eigenen Lügen glaubt und diesen Krieg für moralisch geboten hält.
Im Augenblick läuft es für Russland auf dem Schlachtfeld besser als für die Ukraine. Den jüngsten ukrainischen Schlag gegen die russische Luftwaffe halten Journalisten eher für einen psychologischen Sieg, der aber kaum spürbare Veränderung in den Kriegshandlungen erbringen dürfte. Man liest, Russlands Sommeroffensive rollt an und Putin hält es für dumm, gerade jetzt nachzulassen – denn wofür hat er viele Tausende von Russen in den sicheren Tod geschickt, wenn nicht für die Eroberung? Anfang der Woche verlangte Russland in Istanbul eine vollständige Demilitarisierung der Ukraine und weitreichende territoriale Zugeständnisse. Doch eine entmilitarisierte Ukraine wird sich Putin auf kurz oder lang vollständig unter den Nagel reißen. Weshalb Verhandlungen jetzt Aussichten auf Erfolg haben sollten, leuchtet mir nicht ein. Wer die christliche Friedenshoffnung vom jetzigen Verhandlungserfolg abhängig machen würde, dürfte sich als naiv herausstellen.
Ruf nach Verhandlungen schadet in dieser Situation
Außerdem sind Verhandlungen ein Signal, das nicht nur in die Ukraine und nach Russland ausstrahlt. Verhandlungen sind auch innenpolitisch in Deutschland relevant, und möglicherweise auch für die USA. Beispiel Michael Kretschmer: Der sächsische Ministerpräsident hat neulich gefordert, man müsse wieder mehr Handel treiben und die Gasimporte aus Russland hochfahren. Dann könne man besser mit Putin reden. Außer Kretschmer fordert so etwas vor allem die AfD, aber etwa auch die Linke.
Die AfD hat an der Pro-Putin-Erzählung ein doppeltes Interesse: Sie erhält Unterstützung aus Russland, teils durch ideologische Desinformationskampagnen, teils anscheinend durch finanzielle Mittel. Dafür muss sie Putin einen propagandistischen Gegenwert bieten. Außerdem lässt sich so die Unterstützung der Ukraine durch die deutsche Regierung schlechtreden. Wenn diese Perspektive an Einfluss gewinnt, floriert das Ressentiment: Die westlichen Werte seien schlecht, die NATO sei schlecht, Deutschland sei Kriegstreiber. Immer wieder halten diese Kreise Politiker:innen und Journalisten das Stöckchen hin, damit sie drüberspringen. Putin wird immer wieder als jemand dargestellt, der letztlich doch das Herz am rechten Fleck habe. Das ist keine legitime Diskussion, das ist die Unterstützung von Staatsterrorismus, militärischer Aggression und extremistischen Narrativen. Nun wirbt auch der sächsische Ministerpräsident dafür.
Dabei hat Putin nicht nur den Tod und Verletzungen von über einer Million Russen und Ukrainer auf dem Gewissen. Er greift auch Deutschland und den Westen an. In Deutschland, wie auch in Großbritannien, bezahlt er Auftragsmörder. Er hat auch versucht, ein deutsches Frachtflugzeug in die Luft zu sprengen – ausgerechnet in Leipzig, in Kretschmers Bundesland. "Woldemort" Putin ist auch mitschuldig am Abschuss eines malaysischen Zivilflugzeuges (2014), und damit hat neben anderen Personen auch er den Tod von fast 300 Zivilisten auf dem Gewissen, darunter 192 Niederländer. Aufgeben kann ich die christliche Friedenshoffnung nicht. Aber die christliche Verpflichtung zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit möchte ich ihr auch nicht einfach opfern.
Die Rolle der USA
Außerdem dienen die Bemühungen um Verhandlungen dem Zweck, die USA bei der Stange zu halten. Der "Zeit"-Artikel beschreibt, wie die europäischen Nationen sich in drastischeren Maßnahmen gegen Putin zurückhalten, um Trump nicht zu vergraulen. Man könne nur mit Trump im Boot Putin effektiv Einhalt gebieten, nicht aber ohne die USA. Die Europäer dürften Trump nicht mit antirussischer Härte vergraulen, weil sie nur mit Trump an ihrer Seite Härte gegen Russland zeigen können. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.
Dabei sollten wir doch jetzt etwas klüger sein, was Trump angeht. Trump hat seit Amtsantritt die Unterstützung der Ukraine deutlich heruntergefahren und zahlreiche antirussische Maßnahmen der USA einstellen lassen. Was das tagespolitische Hin und Her angeht, hat er zuletzt mal mit dem Smartphone eine Breitseite gegen Putin abgefeuert ("CRAZY!!!"), ihn aber auch umgarnt (Trump müsse einfach einmal persönlich mit Putin sprechen). Er irrlichtert hin und her, setzt sich aber in der Summe vor allem zu Russlands Gunsten ein. Hauptsache, er kann letztlich die Schuld am Krieg Joe Biden in die Schuhe schieben.
Grund zur Hoffnung könnte geben, dass der amerikanische Senat ein parteiübergreifendes Sanktionspaket gegen Putin diskutiert. Hier gibt es positive Zeichen. Doch auch so ein Paket müsste noch durch die andere parlamentarische Kammer und bräuchte dann Trumps Unterschrift. Mit ihrer Hoffnung auf Trump dürfen sich die Europäer nicht von einem klaren Kurs gegen Putin abbringen lassen.
Verständigungssehnsucht zulasten der Ukraine
Dass die christliche Friedenshoffnung für Verhandlungen im Vatikan spricht, kann man also so einfach nicht behaupten. Zugunsten der Verhandlungen kann man natürlich fragen: Was kann man denn schon verlieren mit einer Verhandlungsinitiative? Gewinnen kann in Deutschland die AfD. Aber wichtiger noch: Es verlieren die Ukrainerinnen und Ukrainer. Denn Putin hat in den letzten Monaten auf Verhandlungsinitiativen reagiert, indem er ukrainische Städte noch brutaler angegriffen hat. So, als es wiederholt um Gespräche in Istanbul ging, sowohl im April als auch im Mai. Das tut Putin nicht, obwohl der Westen verhandeln möchte, sondern das tut Putin, weil der Westen verhandeln möchte. Putin merkt: Je mehr der Westen auf Verhandlungen setzt, desto krassere Gewalt darf er sich herausnehmen. Je mehr wir von Verhandlungen reden, desto klarer wird, dass wir gewisse Dinge nicht wahrhaben wollen und Schwäche zeigen.
Der Einsatz für Verhandlungen nährt immer wieder die Hoffnung, dass man eigentlich mit Putin reden kann, und umso brutaler geht Putin gegen die Ukraine vor. Ich meine dagegen: Was Putin angeht, müssen wir "Cold Turkey" gehen – zumindest, solange Putin auf dem Schlachtfeld Fortschritte macht und die Verhandlungsinitiativen nicht klar von ihm selbst ausgehen. Das sollten wir in über drei Jahren Krieg gelernt haben. Wenn wir von einer Verhandlungslösung träumen, während die Tatsachen vor Ort eine solche Hoffnung unrealistisch erscheinen lassen, dann naschen wir von einem süßen Gift. Das bezahlen die Ukrainer mit immer krasseren Bombennächten. Für so etwas soll Papst Leo bitte nicht die christliche Friedenshoffnung anführen!