Botaniker Kolja Bodendieck sieht die öffentliche Toilette, lächelt zufrieden und geht auf die Knie. An der Wand wuchert Grün. Nicht irgendein Grün, wie die 25 Menschen seiner "Krautschau"-Tour in der Hamburger Hafencity bald wissen. "Es ist wie ein kleiner Garten", sagt der 31-Jährige vom Botanischen Verein zu Hamburg. Er holt Straßenmalkreide raus, umkringelt die Pflanzen und schreibt ihre Namen auf das Pflaster: Niederliegendes Mastkraut, Breit-Wegerich, Lösels Rauke, Hirtentäschelkraut. Mit seiner Frau Imke leitet er die Tour der Loki Schmidt Stiftung. Ziel der Aktion "Krautschau" ist es, auf Wildpflanzen in der Stadt und ihre Bedeutung aufmerksam zu machen.
Denn an den Pflanzen, die zwischen Pflastersteinen, Scherben und Zigarettenstummeln wachsen, geht man meist achtlos vorüber. "Die meisten Menschen kümmern sich nur um ihre Balkon- oder Gartenpflanzen", sagt Kolja Bodendieck. Er will das ändern und aufklären: "Nur was wir kennen, schützen wir auch." Helfen können dabei auch Smartphone-Apps zur Pflanzenbestimmung wie Flora Incognita oder ObsIdentify. Teilnehmer Heinz Brossolat probiert es gleich aus, hat ein Kanadisches Berufkraut entdeckt und schreibt den Namen mit Kreide auf den Boden.
Als Erfinder der Idee gilt der französische Botaniker Boris Presseq vom Naturkundemuseum in Toulouse. Seine Straßengraffiti verbreiteten sich unter den Hashtags #SauvagesdemaRue und #MoreThanWeeds in Frankreich und England. In Deutschland sind sie in den sozialen Medien unter #Krautschau und #MehrAlsUnkraut bekannt.
"Wir wollen so das Übersehene sichtbar machen", sagt Axel Jahn, Geschäftsführer der Loki Schmidt Stiftung. Auch er hat Kreide dabei. Er sei immer wieder überrascht, wie viele Pflanzen an unaufgeräumten Stellen wachsen. An Orten, wo es niemand erwartet. "Die Stadt kann ein lebendiger Ort für die Natur sein, wenn wir nicht alles wegräumen, was wachsen will", sagt
Sie sind zäh, werden getreten und bepinkelt
Seit 2021 gibt es "Krautschau"-Aktionstage in Deutschland, in diesem Frühjahr sind es über 70 gemeldete Führungen. "Im nächsten Jahr sollen es über 100 werden", hofft Koordinatorin Julia Krohmer von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt am Main.
Bundesweit hätten sich mehr als 500 Pflanzenarten an extreme Bedingungen in Städten angepasst - "Ritzenrebellen", wie Krohmer sie liebevoll nennt. Sie sind zäh, werden getreten, überfahren und bepinkelt, überleben Hitze, Trockenheit und Bodenverdichtung.
Es sind kleine Kämpfer, die sogar Folgen des Klimawandels mildern können. "Ein dichter Bewuchs in den Fugen erhöht die Festigkeit des Kopfsteinpflasters, bindet Staub und kann mehr Oberflächenwasser aufnehmen", erklärt die 57-jährige Geoökologin Krohmer. An heißen Sommertagen kühlen sie die Steine: "Eine spanische Studie hat gezeigt, dass der Temperaturunterschied zwischen begrünten Pflasterritzen und den Pflastersteinen daneben bis zu 28 Grad Celsius betragen kann."
Auch für das Ökosystem sind Wildpflanzen wichtig, sie bieten Schutz und Nahrung für Insekten. Allein Gänseblümchen machen 70 Wildbienen- und 15 Schwebfliegenarten satt. Julia Krohmer wünscht sich grundsätzlich einen anderen Blick auf das Stadtgrün: "Wir brauchen nicht nur Bäume und Parks, sondern auch mehr Flächen, wo man der Natur ihren Lauf lässt." Einfach mal wachsen lassen, statt Ritzen kratzen.
Wie das aussieht, erlebt die Hamburger Gruppe in der Hafencity: Zwischen Beton wuchern Spitzwegerich, Kahles Bruchkraut und sogar Gebirgspflanzen. "Hier sind wir in den Alpen", erklärt Botaniker Bodendieck, bleibt stehen und schreibt Schneeweiße Hainsimse aufs Pflaster. Daneben entdeckt er seine persönlichen Frühsommerboten: "Für viele sind es die Schwalben, für mich ist es Mäusegerste." Er streicht über das Gras. "Das ist so ein bisschen wie Katze streicheln", sagt er und grinst.
Seine Frau Imke zieht schon weiter: "Man muss auch mal an Sachen vorbeigehen", lacht die 33-Jährige. Im Moment wird in der Hafencity an jeder Ecke gebaut. "Deshalb finden wir hier noch so viel", sagt Imke Bodendieck, aber jetzt freut sie sich: Sie hat gerade das Niederliegende Fingerkraut entdeckt. Eine seltene Art, die in Hamburg auf der Vorwarnliste steht.
"Der Hafen ist wie eine botanische Wundertüte", findet Kolja Bodendieck. Wenn erstmal alle Hochhäuser der Hafencity fertig sind, werde davon wohl nicht mehr viel übrig bleiben. Es sei denn, die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner hätten ein Herz für die kleine, wilde Natur. "Jede Pflanze hat ihren eigenen Wert und eine Geschichte", sagt er und streicht nochmal über die Mäusegerste. "Lasst sie doch einfach wachsen."
Botanische Exkursionen des Botanischen Vereins Hamburg: www.botanischerverein.de