Mit der "Strukturierten Informationssammlung" wurde zwar vor zehn Jahren in der Pflege eine entbürokratisierte Dokumentation eingeführt. Doch noch immer frisst die "Doku" viel Zeit im Pflegealltag auf. Das frustriert viele Pflegeprofis, die entnervt aus dem Beruf aussteigen. Einer von ihnen ist Intensivkrankenpfleger Benjamin Lutze: "Wir befassen uns mit dem Falschen."
Lutze hatte zuletzt in Frankfurt am Main gearbeitet, bevor er Ende 2024 aus der Pflege ausstieg. Fast überall werde doppelt oder dreifach dokumentiert. Dieselben Beatmungsparameter zum Beispiel können im Beatmungsprotokoll, in der Tageskurve und im Freitext der Standarddokumentation festgehalten werden, um sich nach allen Seiten abzusichern. Er selbst dokumentierte aus seiner Sicht stets "präzise und knapp". Was immer wieder zu Konflikten mit Kollegen oder Vorgesetzten führte: "Ständig musste ich mich rechtfertigen."
Pflegekräfte stehen ständig vor der Frage, Vorgaben zu erfüllen oder etwas im Sinne des Betreuten zu tun. Ein fortwährender Konflikt, wenn man weiß, was in Heimen alles festgehalten werden muss: persönliche Stammdaten des Bewohners, Pflege-Anamnese samt Erfassung der individuellen Pflegebedürfnisse, spezielle Gewohnheiten, soziale Beziehungen und aktuelle Befindlichkeiten, Ziele und Maßnahmen der Pflegeplanung, tägliche Berichte zu erledigten Arbeiten, individuelle Beobachtungen, Besonderheiten und Veränderungen samt Datum, Uhrzeit und Unterschrift der Pflegekraft sowie Schmerzprotokolle, Wunddokumentation und Medikamentenplanung.
In der Praxis wird laut Lutz viel aus Unsicherheit dokumentiert. Um abgesichert zu sein, falls etwas schiefgeht. Unter zeitaufwendigen Dokumentationen litten jene, für die eigentlich dokumentiert werden soll.
"Bürokratieaufwand kann Grund für schlechte Pflege sein"
Durch die entbürokratisierte Dokumentation muss laut Frank Weidner heute zwar weniger als vor zehn Jahren festgehalten werden. Allerdings gelte das nur für die reine Pflege, sagte der Vorstand des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung dem Evangelischen Pressedienst. Es gebe weitere Berichtspflichten: "Zum internen Qualitätsmanagement, zum Datenschutz und Hygienekonzepten oder für Krisenkonzepte und das Beschwerdemanagement." Doch egal, ob mal etwas mehr oder etwas weniger zu dokumentieren ist: "Die Dokumentation muss oft für den grundsätzlichen und häufig berechtigten Unmut in der Pflege wegen schlechter Rahmen- und Arbeitsbedingungen herhalten."
Aus Sicht von Ulrich Dobler, Pressesprecher des Altenhilfeträgers "Stiftung Liebenau" in Meckenbeuren im Bodenseekreis, kann der Bürokratieaufwand ein Grund für schlechte Pflege sein. Er kritisiert die doppelte Prüfung gleicher Tatbestände durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen und die kommunale Heimaufsicht: "Das wirft oft Fragen auf und führt zu Unsicherheit."
Pflegefachkraft Heike Arens aus Fulda betont, durch die Angst, in Haftung genommen zu werden, dehne sich die Dokumentation immer weiter aus. Deshalb werde in Heimen beispielsweise so viel rund um Prophylaxe schriftlich festgehalten. Denn: Bekomme ein Patient einen Dekubitus, könne über die Dokumentation nachgewiesen werden, dass pflegerisch alles versucht wurde, um ein Wundliegen zu verhindern.
Sandra Postel, Präsidentin der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen, hört immer wieder von Pflegekräften, dass bei der Dokumentation nicht selten "pflegerische Binsenweisheiten" festgehalten würden. Nach der Devise "sicher ist sicher" werde oft doppelt dokumentiert. Folge: "Die Dokumentation nimmt so viel Zeit in Anspruch, dass die Bewohner nicht ordentlich versorgt werden können."
Kathrin Mangold vom Bundesverband Ambulante Dienste und Stationäre Einrichtungen, sagt, Fachkräften müsse die Angst vor möglichen Fehlern genommen werden. Aber: "Die Dokumentationsprüfung durch die Heimaufsichten hat in vielen Bundesländern immer noch einen großen Stellenwert."