Verbrechen gab es schon immer; laut Bibel sogar seit Anbeginn der Zeit, als Kain seinen Bruder Abel erschlug. Die moderne Kriminalistik, also die Bekämpfung von Verbrechen, gibt es allerdings erst seit gut 200 Jahren. Die Kriminologie ist sogar noch jünger.
Diese Wissenschaft erforscht unter anderem, warum ein Mensch Verbrechen begeht: Sind es vor allem äußere Einflüsse, die ihn beispielsweise zum Mörder machen? Oder schlummern die entsprechenden Anlagen bereits von Geburt an in ihm? Der Titel dieses Krimis aus Rostock, "Böse geboren", scheint diese Frage eindeutig zu beantworten, zumal das Drehbuch auch gleich den passenden Täter dazu liefert; aber ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Film beginnt denkbar finster. Die ersten Bilder sind eine Kombination von winterlichen Aufnahmen und düsteren Zeichnungen; zwischendurch ist ein verträumt wirkender junger Mann zu sehen. Derweil entdecken zwei Frauen etwa gleichen Alters in den frühen Morgenstunden in der Nähe eines Hochsitzes ein erschossenes Reh. Es ist Schonzeit, die beiden sind entsprechend zornig, als plötzlich ein Schuss fällt. Die eine bricht tödlich getroffen zusammen, die andere kann sich ins Auto retten, das jedoch nicht anspringt, also flieht sie weiter in den Wald hinein.
Nun wechselt die Erzählperspektive: Eine Mutter (Jördis Triebel) sieht, wie ihr Sohn heimgekehrt. Milan (Eloi Christ) war wie so oft mit dem Gewehr im Wald unterwegs und hat blutverschmierte Hände. Er vergräbt das Reh, aus dessen Körper er zuvor die Kugel entfernt hat. Das Projektil legt er zu vielen anderen in ein Glas.
Nach dem fesselnden Auftakt kommt der Film erst mal zur Ruhe. Revierförsterin Cobalt (Annika Kuhl) hat die Leiche entdeckt und die Polizei informiert. Die tote Frau hatte eine Akkusäge dabei, offenbar war sie militante Tierschützerin. Cobalts Bruder ist Jäger, er sitzt im Rollstuhl, seit ein angesägter Hochsitz unter ihm eingestürzt ist. Dass die Kommissarinnen König und Böwe (Anneke Kim Sarnau, Lina Beckmann) die Familie nach ihren Alibis fragen, erzürnt vor allem Cobalts Mann (Nicki von Tempelhoff), zumal sich neben den gewaltbereiten Aktivisten auch noch ein Wilderer im Wald rumtreibt.
Immerhin stellt sich rechtzeitig heraus, dass das Mordopfer nicht allein unterwegs war. Ein Großaufgebot sucht nach der zweiten Frau, die verletzt und unterkühlt, aber lebend von einem Suchhund aufgespürt wird. Eine andere Entdeckung ist dagegen verstörend: Jemand hat Schaufensterpuppen im Wald als Zielscheiben missbraucht.
Gleich nach dem Prolog führt das konfliktreiche Drehbuch eine Nebenebene ein, die zumindest zunächst nichts mit dem Fall zu tun zu hat. In den Sonntagskrimis wirkt das Privatleben der Teammitglieder oft wie lästiges Beiwerk, im "Polizeiruf" aus Rostock war es stets unverzichtbar: weil es von Anfang an eine besondere Verbindung zwischen König und ihrem Kollegen Bukow gab.
Als sich Charly Hübner verabschiedete, wurde dieser Faden clever fortgeführt: Melly Böwe ist Bukows Schwester (und Beckmann Hübners Frau). Die Kommissarin bekommt zu Beginn Besuch von ihrer Tochter: Die vaterlos aufgewachsene Rose (Emilie Neumeister), angeblich das Ergebnis einer flüchtigen Begegnung, will mehr über ihre Familie erfahren und außerdem endlich wissen, wer ihr Erzeuger ist. Außerdem fragt sie sich, woher die Wut stammt, die sie in sich spürt; womöglich vom Großvater, der schließlich Berufsverbrecher war.
Dank Rose können die Autorinnen Catharina Junk und Elke Schuch schon früh das eigentliche Thema des Krimis setzen: Milans verstorbener Vater war ein mehrfacher Frauenmörder. Die Frage, auf wen sich der Titel bezieht, stellt sich daher im Grunde nicht; bis sich die Geschichte nicht nur auf dieser Ebene in eine völlig andere Richtung entwickelt.
Alexander Dierbach hat viele gute Krimis gedreht, darunter einige vorzügliche "Helen Dorn"-Episoden. Bei "Böse geboren" kommt ihm zugute, dass er auch ein ausgezeichneter Dramenregisseur ist. Sein bevorzugter Kameramann ist seit geraumer Zeit Ian Blumers. Die gemeinsamen Arbeiten, darunter neben Beiträgen für verschiedene Reihen zuletzt auch die Miniserie "Die Saat – Tödliche Macht" (2023, ARD), sind ausnahmslos mindestens sehenswert.
Handwerklich wirkt Dierbachs erster "Polizeiruf" auf den ersten Blick nicht weiter auffällig, doch die Bildgestaltung ist von großer Sorgfalt, zumal er und Blumers wie schon in ihrem Ehedrama "Wo ist die Liebe hin" (2020, ARD) auch optisch jegliche Schuldzuweisung vermeiden. Von der Kameraarbeit profitiert das gesamte Ensemble, aber gerade Eloi Christ verdankt ihr eine eindrückliche Präsenz.