Nur wenige Werke der Weltliteratur sind so oft verfilmt worden wie Victor Hugos Revolutionsroman "Les Misérables"; die Anzahl geht in die Dutzende, von der Adaption als Musical ganz zu schweigen. Ladj Ly hat das Buch mit seinem Film "Die Wütenden" auf höchst ungewöhnliche Weise adaptiert.
Sein Drama basiert zwar allenfalls noch auf Motiven der Vorlage, doch dafür auf wahren Begebenheiten: Der französische Autor und Regisseur hat sich durch die Unruhen im Herbst 2005 inspirieren lassen; Auslöser der Krawalle, die sich über drei Wochen hinzogen, war damals der Tod zweier Jugendlicher, die bei der Flucht vor der Polizei ums Leben gekommen sind.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Film handelt von einem ganz normalen Tag in Montfermeil. Der problematische Pariser Vorort, in dem Hugo 1862 seinen Roman geschrieben und angesiedelt hat, ist ein Pulverfass; ein Funke genügt, um gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Bevölkerungsgruppen zu entfachen. In dieser explosiven Atmosphäre soll eine Spezialeinheit halbwegs für Ordnung sorgen. Die enorme Aggression, die hier ständig in der Luft liegt, hat bei den Beamten deutliche Spuren hinterlassen: Wie einst in den Gangsterfilmen von Jean-Pierre Melville unterscheiden sich die Polizisten von den Verbrechern nur durch ihre Marke; ihre Methoden sind die gleichen.
Ly will mit seinem Spielfilmregiedebüt zeigen, dass sich für die Unterschicht in den 160 Jahren seit der Veröffentlichung von "Les Misérables" nichts geändert hat. Er erzählt seine zunächst anekdotisch konzipierte Geschichte aus Sicht eines Neuankömmlings: Stéphane (Damien Bonnard) hat sich aus der Provinz nach Paris versetzen lassen und ist mitten in einem Alptraum gelandet. Sein rassistischer Chef (Alexis Manenti) agiert nach der Devise "Das Gesetz bin ich".
Weil sich der korrekte Stéphane an die Regeln halten möchte, kriegen die beiden ständig Ärger. Die gereizte Stimmung im Viertel droht zu eskalieren, als Kinder aus einem Zirkus ein Löwenbaby klauen. Weil die fahrende Truppe mit Krieg droht, suchen die Flics fieberhaft nach dem Dieb. Als sie den kleinen Issa schließlich stellen, kommt es zu einem Tumult, in dessen Verlauf ein Junge von einem Gummigeschoss im Gesicht getroffen wird und leblos zusammenbricht.
Ein Jugendlicher hat den Vorfall mit seiner Drohne gefilmt. Das Schicksal des Jungen ist Stéphanes Chef völlig gleichgültig, er tut alles, um das Video zu bekommen, denn wenn die Bilder im Netz landen, wird der Vorort explodieren. Am Abend stellt der Polizist aus der Provinz fest, dies sei der schlimmste Tag in seinem Leben gewesen; da kann er noch nicht ahnen, was sich am nächsten Morgen ereignen wird.
Regisseur Ly weiß, wovon er erzählt, und das nicht nur wegen der Dokumentarfilme, die er bereits über Montfermeil gedreht hat: Er ist als Sohn westafrikanischer Einwanderer in dem Vorort aufgewachsen. Seine authentische Wirkung verdankt das packende Drama neben der Mitwirkung vieler Laiendarsteller vor allem der Inszenierung: Mit Ausnahme der Drohnenbilder sind alle Szenen mit einer Handkamera (Julien Poupard) gedreht worden. Das verleiht dem Film eine große Dynamik. Außerdem ist das Publikum auf diese Weise immer mittendrin im Geschehen, was gerade beim äußerst intensiven Finale, als die Polizisten in einen Hinterhalt gelockt werden und es nur noch ums nackte Überleben geht, ein fast körperlich spürbares Unwohlsein zur Folge hat.
Der Film erfordert ohnehin ein dickes Fell, und das nicht nur wegen des geballten Testosterons, das ständig in der Luft liegt (Frauen kommen so gut wie gar nicht vor); der späte Ausstrahlungstermin ist aufgrund der Menschenverachtung und der verrohten Sprache vollkommen angebracht.
"Die Wütenden" hat 2019 in Cannes den Preis der Jury bekommen und war 2020 für die wichtigsten Filmpreise nominiert, darunter der "Oscar" für den Besten fremdsprachigen Film. Zu den Auszeichnungen gehören unter anderem der "César" als Bester Film (hier gab’s auch den Publikumspreis), die Würdigung als "Europäische Entdeckung" beim Europäischen Filmpreis sowie der internationale Friedenspreis des Deutschen Films für Regisseur Ly.
Die Jury der Evangelischen Filmarbeit hat sein Werk im Januar 2020 als Film des Monats empfohlen: "Der Film vermeidet es, parteiisch zu werden. Die übergriffige Gewalt der Polizei wird mit maßloser Gewalt der Jugendlichen beantwortet. Dieser Film deckt die Wirklichkeit der Vorstädte von Paris auf, die sich fundamental vom Stadtzentrum unterscheiden."