Was die Sexualitätsstudie übers Christsein aussagt

gemalte Silhouetten von Menschen mit Sprechblasen
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Die Studie zur Sexualität unter Christen hat so manche überraschende Ergebnisse mit sich gebracht. Sie zeige laut Forschungsleiter Tobias Künkler aber vor allem: Es gibt Gesprächsbedarf.
Fragen an den Forschungsleiter
Was die Sexualitätsstudie übers Christsein aussagt
Sexualität bleibt in Kirchen ein "heißes Eisen": Sie berührt Glauben, Identität und Emotionen gleichermaßen. Die empirica Sexualitätsstudie der CVJM-Hochschule zeigt, wie Christ:innen heute leben, lieben und glauben - jenseits von Klischees. Im Gespräch erläutert der Forschungsleiter Tobias Künkler die überraschenden Befunde, die Spannbreiten zwischen konservativen und liberalen Haltungen sowie die Herausforderungen für Kirche und Seelsorge.

Wieso bedarf es überhaupt einer solchen Studie?

Tobias Künkler: In kirchlichen Debatten wird viel über Sexualität gesprochen und gestritten – aber selten auf der Grundlage solider Daten. Sexualität ist ein verminter Boden, auch in kirchlichen Kontexten: Sie löst Emotionen, Abwehr und Polarisierungen aus. Uns hat interessiert, wie Christ:innen tatsächlich leben, glauben und lieben – jenseits von Klischees und Wunschbildern. Wir wollten wissen: Wie prägen Glaube und Kirche Sexualität heute wirklich? Welche Werte bleiben wichtig, wo hat sich etwas verändert?

Was hat Sie persönlich am meisten überrascht, als Sie die Ergebnisse der Studie zum ersten Mal gesehen haben?

Künkler: Mich hat überrascht, wie groß die Spannbreite ist. Zwischen rigiden und sehr offenen Haltungen liegen Welten. Die Spannbreite reicht zum Beispiel beim Thema Solosex von "Selbstbefriedigung ist Sünde" bis "Selbstbefriedigung ist Gottesdienst". Besonders interessant war: Diese Unterschiede verlaufen nicht einfach entlang der Intensität der Religiosität. Es gibt hochreligiöse Christ:innen mit sehr konservativen sexualethischen Überzeugungen – aber auch hochreligiöse, mit einer ausgesprochen liberalen Sexualethik.  Hochreligiosität bedeutet also nicht automatisch Strenge oder Enge.

Unsere Daten zeigen zudem, dass sich in den letzten zehn Jahren eine deutliche Liberalisierung vollzogen hat – etwa in der Bewertung von vorehelichem Sex, Solosex oder gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Selbst in Milieus mit klar konservativem Selbstverständnis sind heute deutlich mehr Menschen zu einer reflektierten, teilweise auch selbstkritischen Neubewertung gelangt.

"13 Prozent der Befragten berichten davon eine (versuchte) Vergewaltigung erlebt zu haben"

Erschüttert haben mich hingegen die Ergebnisse zur sexualisierten Gewalt im kirchlichen Kontext. 13 Prozent der Befragten berichten davon, eine (versuchte) Vergewaltigung erlebt zu haben, gegenüber 9 Prozent in der Gesamtbevölkerung. Etwa ein Achtel der Befragten, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, gab an, dass mindestens ein Übergriff im Kontext von Kirche stattfand. Circa drei Viertel dieser Übergriffe im Kontext von Kirche wurden nicht aufgedeckt, geschweige denn angemessen aufgearbeitet. Die Unterschiede zwischen den Konfessionen und Denominationen sind gering. Auffällig ist allerdings, dass die Aufdeckungs- und Aufarbeitungsquote im volkskirchlichen Bereich (katholisch wie evangelisch) niedriger liegt als in den Freikirchen.

Wie sind die bisherigen Reaktionen auf die Studie ausgefallen? Gibt es Kritiker? 

Künkler: Die Resonanz war bislang erfreulich hoch. Unsere Studie wird breit diskutiert – besonders im evangelikal-pietistischen Raum, wo sie intensive Auseinandersetzungen ausgelöst hat. Viele haben sich ernsthaft mit den Ergebnissen befasst, andere taten sich schwerer damit. In manchen Reaktionen spürte man eine Art Immunisierung: Wenn die Ergebnisse nicht ins eigene Weltbild passen, wird schnell unterstellt, dass die Forscher:innen "biblische Maßstäbe verschieben" wollen. Da gilt leider manchmal: Wenn einem nicht gefällt, was man im Spiegel sieht, schlägt man auf den Spiegel ein. Weniger Resonanz gab es bislang in der Breite des volkskirchlichen Bereich, obwohl viele der Befunde gerade hier hoch relevant wären. Hier gibt es einen ähnlichen, aber inhaltlich anderen Reflex: "Hochreligiöse spielen in der Evangelischen Kirche ja keine entscheidende Rolle." Das stimmt erstens nicht und zweitens geht diese Studie weit darüber hinaus. Christ:innen aus allen Kontexten und Lagern werden Befunde finden, die die eigenen Vorannahmen bestätigen und andere, die diese herausfordern.

Sie schreiben: "Fragen zu Geschlecht und Sexualität sind in christlichen Kreisen und Debatten ein heißes Eisen und teilweise Gegenstand von intensiven Kulturkämpfen". Woran liegt das? 

Künkler: Unsere Befragung hat sehr deutlich gezeigt, wie stark das Thema Sexualität in kirchlichen Kontexten mit Emotionen, Identität und Weltbildern verknüpft ist. Das haben wir zuletzt in der hitzigen Diskussion über die "Ehe für alle" in Württemberg anschaulich gesehen. Schon die Umfrage selbst war ein Art Lackmustest: Über 10.000 Christ:innen haben teilgenommen – und die Rückmeldungen reichten von begeisterter Zustimmung bis zu empörten Beschwerden. Einige fühlten sich durch Fragen zur Selbstbefriedigung provoziert oder gar verletzt, andere ärgerten sich, dass ihre spezifischen sexuellen Vorlieben nicht vorkamen. Besonders aufgeladen war das Thema Gendern: Die einen kritisierten, dass wir im Fragebogen nur binär – also mit "Partner" und "Partnerin" – formulieren. Andere wiederum verweigerten ihre Teilnahme, weil sie den Begriff Christ:innen im Titel als "Ideologie" empfanden. Solche Reaktionen zeigen, dass es in manchen Fragen kaum noch einen ‚Common Ground‘ gibt.

"Auch bei Jüngeren gibt es konservative Positionen, und auch Ältere zeigen liberalere Einstellungen"

Inwiefern hat die Polarisierung, von der Sie sprechen, etwas mit verschiedenen Generationen zu tun? Oder lässt es sich gar nicht am Alter festmachen? 

Künkler: Wir haben tatsächlich festgestellt, dass es nicht bei allen sexualethischen Themen eine Polarisierung gibt. Diese entsteht vor allem bei bestimmten Triggerthemen: beim Verständnis von vorehelicher Abstinenz, bei der Frage, ob es nur zwei Geschlechter gibt, und beim Umgang mit sexueller Vielfalt. Hier stehen sich fast gleich große Gruppen mit gegensätzlichen Überzeugungen gegenüber.

Bemerkenswert ist: Auch bei Jüngeren gibt es konservative Positionen, und auch Ältere zeigen liberalere Einstellungen. Vielmehr hat sich gezeigt, dass sich zwischen Alter und sexualethischen Einstellungen kein messbarer Zusammenhang feststellen ließ. Die Liberalisierung in sexualethischen Fragen scheint also weniger eine Generationenfrage zu sein, sondern Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Veränderungen, die quer durch alle Altersgruppen wirken.

Ihre Studie spricht von "Glaubensbiografien, die Sexualität einschließen statt ausblenden". Wie könnte das in einer typischen Gemeinde praktisch aussehen?

Künkler: Mit "Sexualität einschließen" meinen wir Glaubensbiografien, in denen Sexualität selbstverständlich Teil des Glaubenslebens ist – nicht etwas, das diese von Glauben und Spiritualität abspaltet. In den biografischen Interviews der Studie erzählen viele Christ:innen, dass sie gelernt haben, Körperlichkeit und Lust als Dimension ihrer Spiritualität zu verstehen. 

"In Freikirchen wird Sexualität dagegen häufiger thematisiert, allerdings meist stärker normativ, etwa mit Blick auf Abstinenz oder Reinheitsideale"

Unsere Daten zeigen, dass Sexualität in evangelischen Kirchengemeinden vergleichsweise selten offen angesprochen wird. Viele erleben, dass das Thema eher in die Privatsphäre verlagert wird – aus Rücksicht, Scham oder Angst vor Konflikten. In Freikirchen wird Sexualität dagegen häufiger thematisiert, allerdings meist stärker normativ, etwa mit Blick auf Abstinenz oder Reinheitsideale. Beides greift zu kurz.  

Eine kirchliche Praxis, die Sexualität einschließt, müsste zwischen diesen Polen einen dritten Weg finden: Räume schaffen, in denen über Körper, Begehren, Partnerschaft oder Verletzlichkeit offen, respektvoll und seelsorgerlich sensibel gesprochen werden kann – ohne moralische Bewertung, aber auch ohne Beliebigkeit.

Ihre Daten machen deutlich, dass queere Christ:innen häufiger mit inneren Konflikten kämpfen, aber zugleich eine "entspanntere Haltung" entwickeln. Welche Konsequenzen sollte Kirche aus diesem Befund ziehen - seelsorgerlich, aber auch theologisch?

Künkler: Unsere Daten zeigen: Queere Christ:innen sind in besonderer Weise Belastungen ausgesetzt. Sie erleben in ihren Kirchen und Gemeinden häufiger Ausgrenzung und sexualisierte Gewalt. Etwa ein Drittel der queeren Befragten fühlt sich in ihrer Kirche oder Gemeinde mit der eigenen Identität nicht wirklich willkommen.

"Queere Christ:innen sind in besonderer Weise auf Anerkennung, Schutzräume und positive Deutungsangebote angewiesen"

Gleichzeitig haben viele queere Christ:innen – trotz dieser Erfahrungen – ein vergleichsweise entspanntes Verhältnis zu ihrer Sexualität. Das ist kein Widerspruch: Diese Gelassenheit entsteht vermutlich, weil sie oft bewusste Integrationsarbeit geleistet haben. Viele haben sich intensiv mit theologischen Fragen zu Sexualität und mit inneren Prozessen wie Selbstannahme auseinandergesetzt. Dadurch entsteht häufig eine reflektierte, lebensbejahende Haltung zur eigenen Sexualität, die weniger von Schuldgefühlen geprägt ist.
Queere Christ:innen sind in besonderer Weise auf Anerkennung, Schutzräume und positive Deutungsangebote angewiesen, damit ihre Identität nicht zum Konfliktfeld zwischen Glauben und Sexualität wird, sondern in kirchlichen Kontexten gleichwertig gelebt werden kann. 

Wie kann eine Kirche lernen, über Sexualität zu reden, ohne Angst, Vorurteile und Tabus?

Künkler: Die ForuM-Studie hat diesen Zwiespalt treffend beschrieben: In kirchlichen Kontexten pendelt das Verständnis von Sexualität oft zwischen einem engen, tabuisierenden und einem nahezu grenzenlosen, liberalen Ideal. Diese Widersprüchlichkeit schafft Unsicherheit und kann zum Risikofaktor für sexualisierte Gewalt werden, weil eine klare Sprache und reflektierte Haltung fehlen.

Lernen über Sexualität zu sprechen heißt also weder, "mehr" noch "nicht mehr" darüber zu reden, sondern anders: mit Ernsthaftigkeit, Offenheit und ohne Angst vor Ambivalenzen. Kirche könnte Räume schaffen, in denen Sexualität weder moralisiert noch übergangen wird. Nur so kann sie glaubwürdig begleiten, wo Menschen nach Orientierung und Sinn suchen.

"In der evangelischen Kirche gilt Sexualität vielen als Privatsache – man will weder moralisieren noch provozieren, und so bleibt das Thema oft im Hintergrund"

Welche Rolle spielt das Thema Sexualität in der kirchlichen Ausbildung und was müsste sich dort Ihrer Meinung nach ändern?

Künkler: Dies hat die Studie nicht untersucht, aber nach meiner Kenntnis von Lehrplänen und aus Gesprächen spielt Sexualität in der kirchlichen Ausbildung keine große oder systematisch verankerte Rolle. Sie taucht im Ethik- oder Seelsorgekontext auf, wird aber selten vertieft als eigenes Thema mit biografischem Bezug behandelt.

Vielleicht zeigt sich hier auch ein Muster, das wir in der Studie häufiger beobachtet haben: In der evangelischen Kirche gilt Sexualität vielen als Privatsache – man will weder moralisieren noch provozieren, und so bleibt das Thema oft im Hintergrund. Das wirkt nach außen liberal, führt aber in der Praxis zu sprachlicher und seelsorgerlicher Unsicherheit.

Darum braucht es in der Ausbildung vor allem Reflexionsräume: Möglichkeiten, über Nähe, Grenzen, Körperlichkeit und Beziehungsfähigkeit ins Gespräch zu kommen – theologisch fundiert, aber persönlich. So können kirchliche Mitarbeitende lernen, über Sexualität offen, respektvoll und glaubwürdig zu sprechen – ohne Scham, aber auch ohne Beliebigkeit.

Wenn Sie in zehn Jahren auf diese Studie zurückblicken: Was würden Sie sich wünschen, dass sie bewirkt hat?

Künkler: Ich würde mir wünschen, dass unsere Studie dazu beigetragen hat, dass Kirche ehrlicher, gelassener und sprachfähiger über Sexualität sprechen kann – ohne Angst und Scham und ohne ideologische Reflexe, egal von welcher Seite. Und ich würde mir wünschen, dass die Fälle von sexualisierter Gewalt stark rückgängig sind und bisherige Fälle gut aufgearbeitet wurden. Wenn sie geholfen hat, Brücken zu schlagen zwischen Lebenswirklichkeiten und kirchlicher Sprache, zwischen Glaube und Körperlichkeit, dann hätte sie ihren Zweck erfüllt.

Höhere Sprachfähigkeit ist dabei kein Selbstzweck. Sie ist auch ein Schutzfaktor: Wer in kirchlichen Kontexten offen und reflektiert über Sexualität, Nähe und Grenzen sprechen kann, schafft Räume, in denen Grenzverletzungen früher erkannt und Verantwortung klarer wahrgenommen werden.

Und toll wäre es, wenn die Studie auch über die Kirche hinaus Wirkung entfaltet – indem sie zeigt, dass religiöse Stimmen in Fragen von Sexualität und Ethik differenzierter sind, als öffentliche Debatten oft vermuten lassen. In Zeiten, in denen Sexualität zu einem Schauplatz von Kulturkämpfen geworden ist, kann diese Differenzierung selbst zu einem Beitrag für Demokratiebildung und Radikalisierungsprävention werden: Sie fördert Gesprächsfähigkeit, stärkt gegenseitigen Respekt und widersetzt sich einfachen Freund-Feind-Logiken. Wenn es gelingt, so neue Räume für Dialog und Aushandlung zu öffnen, hätte die Studie auch gesellschaftlich etwas Wichtiges bewirkt.

Die "empirica Sexualitätsstudie" wurde durchgeführt vom Forschungsinstitut empirica für Jugend, Kultur & Religion an der CVJM-Hochschule Kassel. Finanziert wurde das mehrjährige Projekt durch die Stiftung Christliche Medien (SCM).

Das Papier besteht aus drei Teilstudien. Der erste Teil beinhaltet die die Analyse von christlichen Ratgeberbüchern (1970er bis heute), Zeitschriftenartikel aus den letzten zehn Jahren und aktuelle Social-Media-Posts. Der zweite Teil besteht aus einer Analyse von biografischen Interviews. Und Teil 3 umfasst eine quantitative Onlinebefragung mit 10.608 Teilnehmenden.

Zur Studie sind zwei Bücher sowie frei zugänglich eine Zusammenfassung und ein kompletter Forschungsbericht veröffentlicht. Zudem gibt es eine Podcast-Staffel "Herzen & System" dazu. Alle Infos unter www.sexualitätsstudie.de.