TV-Tipp: "Eine fremde Tochter"

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22. MAI, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Eine fremde Tochter"
Oliver (Mark Waschke), einst ein gefeierter Zehnkämpfer, hat sich während seiner aktiven Zeit nicht getraut, zu seiner Homosexualität zu stehen. Das ändert sich mit dem Einzug seiner "fremden Tochter".

Niemand sonst lotet emotionale Abgründe hierzulande so konsequent und schonungslos aus wie der Autor Daniel Nocke und sein kongenialer Partner, der Regisseur Stefan Krohmer. Das mehrfach mit dem Grimme-Preis geehrte Duo seziert Beziehungen nun schon seit gut zwanzig Jahren und fast ebenso vielen Filmen. Ihre Werke behandeln zwischendurch auch mal andere Stoffe, aber die beiden kehren regelmäßig zu einem Kernthema zurück: In ihren besten Dramen ging es stets um die Fliehkräfte innerhalb von Familien. "Eine fremde Tochter" (Erstausstrahlung war 2019) bringt eine neue Facette ins Spiel: Oliver (Mark Waschke), einst ein gefeierter Zehnkämpfer, der Legendenstatus genießt, seit er bei einer Weltmeisterschaft trotz Schädelbruchs eine Bronzemedaille errang, hat sich während seiner aktiven Zeit nicht getraut, zu seiner Homosexualität zu stehen. Seine 15jährige Tochter Alma wirft ihm deshalb vor, die Familie nur als Tarnung benutzt zu haben. Tatsächlich hat Oliver Frau und Tochter nach dem Ende der Karriere verlassen, seither lebt er mit Felix (Wanja Mues) zusammen. 

Diese Konstellation allein böte Dramenstoff genug, doch Nocke und Krohmer spitzen sie auf schockierende Weise zu: Der Film hat kaum begonnen, da wird Almas Mutter aus dem Leben gerissen, als sie fröhlich mit der Tochter plaudernd bei Grün über die Straße geht und überfahren wird. Ihre zupackende Schwester Franziska (Franziska Hartmann) beschließt kurzerhand, dass sich Oliver und Alma, die seit Jahren kaum noch Kontakt haben, irgendwie zusammenraufen müssen, denn sie selbst lebt in Hongkong. Es gäbe zwar noch die Alternative, dass das Mädchen zu den Großeltern zieht, aber das lässt Franziska, die ihren Vater als "Diktator im Rollstuhl" bezeichnet, nicht zu; der Alte verbietet Oliver sogar, an der Beerdigung teilzunehmen. 

Der erste Akt endet also mit dem Einzug der Tochter. Eine Tragikomödie würde sich nun nach der Devise "Besser zwei Väter als gar keiner" am bewährten Erzählmuster "Plötzlich Papa" orientieren. Alma leidet selbstverständlich unter dem Verlust der Mutter, aber immerhin findet sie Trost bei einem Mitschüler (Oskar Wohlgemuth). Die Eltern des ein Jahr älteren Johannes sind Zeugen Jehovas. Ihr prinzipientreues und scheinbar unerschütterliches Weltbild – inklusive einer strikten Ablehnung jedweder "obszöner Verirrung" – wirkt auf Alma in ihrem Ausnahmezustand geradezu verführerisch.

Nun schlägt die Erzählung eine unerwartete Richtung ein: Oliver beginnt, eine intolerante und entsprechend unsympathische Seite zu offenbaren, was schließlich auch zu erheblichen Spannungen zwischen ihm und Felix führt. Dem Mädchen kommt das gerade recht. Die Handlung würde genauso funktionieren, wenn Oliver eine Freundin hätte, aber so bietet sich seine Homosexualität als willkommener Vorwand an. Es gelingt Alma tatsächlich, das Paar zu entzweien; schließlich wünscht sie sich sogar, dass Oliver völlig auf das Ausleben seiner sexuellen Orientierung verzichtet. 

Alma ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Umso entscheidender war die Besetzung der weiblichen Hauptrolle, und in dieser Hinsicht ist Krohmer ein echter Glücksgriff gelungen. Hannah Schiller, mittlerweile Mitte zwanzig und zuletzt unter anderem Hauptdarstellerin der ARD-Serie "Die nettesten Menschen der Welt" (2023), war vor diesem Film bereits in einem herausragend guten "Tatort" aus Dresden ("Parasomnia", 2020) ein Ereignis (mit Wanja Mues als Filmvater); "Eine fremde Tochter" ist allerdings schon vorher entstanden. Unter Krohmers Regie beeindruckt sie vor allem durch ihre Natürlichkeit.

Almas Verlegenheit in den Szenen mit dem ebenfalls ausgezeichnete Oskar Wohlgemuth wirkt ebenso wenig gespielt wie die schwierigen Momente, in denen die junge Schauspielerin Zorn, Trauer und Verzweiflung verkörpern muss. 
Mark Waschke wiederum ist mit seinem trainierten Oberkörper schon rein physisch eine glaubwürdige Besetzung. Er sucht in seinen Rollen offenkundig ohnehin gern nach einer gewissen Ambivalenz; sein Berliner "Tatort"-Kommissar Karow zum Beispiel kann ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse sein.

Wanja Mues hat die vermeintlich einfachere Rolle: Im Gegensatz zu Oliver, der unter Arthrose leidet und seit seinem Rückzug aus dem Sport nichts Rechtes mit sich anzufangen weiß, hat Felix seinen Platz im Leben gefunden, zumal er seine Homosexualität nie verstecken musste. Tatsächlich zeichnet ihn aus, was der Freund von sich nur behauptet: eine klare Haltung. Die spiegelt der Film auch in anderer Hinsicht wider: Nocke inszeniert die Beziehung der Männer ohne Anführungs- oder Ausrufezeichen. Das gilt auch für die erotischen Szenen, die in dieser Form in einem Fernsehfilm noch vor einigen Jahren vermutlich nicht möglich gewesen wären.