Frittenfett und Seelsorge

Portrait von der Pastorin Andrea Kuhla vor einer Mauer.
© Mirjam Zücker
Portrait von der Pastorin Andrea Kuhla vor einer Mauer
Pfarrerin Andrea Kuhla im Porträt
Frittenfett und Seelsorge
Andrea Kuhla ist evangelische Pfarrerin, lebt in Berlin und ist einen weiten, selten gradlinigen Weg gegangen. Es ist eine Geschichte vom Zweifel und Vertrauen.

Ich treffe Andrea an einem strahlend hellen Wintertag, sie hatte gerade Geburtstag. Sie ist Pfarrerin, aktuell in Elternzeit und Mutter sowieso rund um die Uhr - und eine, die Segenssachen sucht und findet. Wir wollen über die großen Zweifel an Gott reden, die zweifelsohne im Leben kommen – und landen immer wieder beim tiefen Vertrauen in ihn. Und, dass es so oft die Menschen sind, die uns verzweifeln lassen - aber die genauso oft Wärme und Zugehörigkeit schenken.

Auch wenn es nicht ihr Kindheitsberufswunsch war; das Hirtentum fällt Andrea Kuhla früh in den Schoß, und auf dem abenteuerlichen, alles andere als geraden Weg zur Pfarrerin, ebenso immer wieder. Zum ersten Mal vielleicht, als sie die Rockband ihres jüngeren Bruders hütet, die nach ihrem Gig nicht allein auf dem Saalboden übernachten soll.

Wie und wo fing alles an? Geboren wurde Andrea vor 42 Jahren in Ostwestfalen. Sie hat die kirchliche Hochkultur nicht in Fleisch und Blut mitbekommen, sondern kam als Gast in die Kirche. Immer mal wieder, mit ihrer Mutter, der der Glaube wichtig war, die am Niederrhein selbst nach den Wurzeln auf der Suche war. Wurzeln, die Andreas Großvater, einst vom Schwarzmeer nach Zeitz verschleppt, mit seiner Frau über die ostdeutsche Grenze retten konnte. Die zwischen heilenden Händen, Borretschtopf und Piroggen-falten, hier neuen Halt fanden. In einer kleinen evangelischen Neubaukirche. Die Orgel, Borten und Talar, die Liturgie – für Andrea Kuhla war das in der Fremde sein. Aber zwischen diesen Menschen war es warm.

Hier ging sie gern in den Gottesdienst und für den Klingelbeutel durfte sie von Zuhause alle Kleinstmünzen der vergangenen Woche mitnehmen. Bis heute erinnert sie sich an den Tag, an dem sie während der Predigt mit den Münzen spielte. Zwei Kinderhände voll. Und wie die ihr aus den Fingern und über den Kirchenboden sprangen, alle, laut klingelnd bis in die letzte Ecke. Gerümpfte Nasen und gerunzelte Stirnen - die Pfarrerin unterbrach ihre Predigt, bückte sich und sammelte mit Andrea die Münzen auf. Dann predigte sie weiter – dabei hatte sie das Wichtigste schon gesagt. Erlebnisse wie dieses sind es wohl, die tief im inneren Kern etwas aufbauen, was Stürmen und Zweifeln standhalten kann.

Ein Schlüsselerlebnis: Als Kind spielte Andrea Kuhla während einer Predigt mit Münzen, die dann laut klimpernd über den Kirchenboden sprangen.

Andrea ist zwölf Jahre alt, als die Familie zurück zieht ins "katholische Land", in die Nähe von Paderborn. Auch hier gibt es eine evangelische Kirche, die ein Ort der Heimat wird. Andrea Kuhla arbeitet bei Kinderfreizeiten mit, wird konfirmiert, sie merkt deutlich: "Kirche ist schon schön mit so ‘nem Gott – und wenn man richtig mitmachen darf, noch viel mehr." Gott ist ein Gegenüber, da ist Beziehung und Resonanz.

Und ohne die Menschen geht es nicht: An der neuen Schule kommt ihre Religionslehrerin ins Spiel, die für Glauben und Menschlichkeit einsteht – und wenn es sein muss, den Mädchen mal eben Nachhilfe in Selbstverteidigung gibt. Später fährt der neue Reli-Lehrer mit kleiner Schar und großem Engagement Jahr für Jahr zu den Kirchentagen. Dort hört Andrea zum ersten Mal auch Dorothee Sölle, die mit herzglühender Streitrede für das Miteinander-Teilen, "jedes Essen sei ein Abendmahl" bis heute bewegt. "Gott sitzt mit am Tisch." 

Umwege auch im Studium 

Sie ist die Erste in ihrer Familie, die Abitur ablegt und studieren geht - nach Bielefeld, und nein, nicht Theologie. Bis zur Pfarrerin im Talar auf der Kanzel ist es noch ein Stück Weg, krumm und mit Krisen. Andrea Kuhla studiert Englisch, Philosophie und Literaturwissenschaften - in einer Welt, die sie nicht kennt, die ihr keiner erklärt, in einem grauen Klotz, "der auch genauso riecht: grau und staubig". Da kann man schnell verloren gehen.

Andrea Kuhla sucht sich Hilfe, einen Ausbildungsplatz in einer Werbeagentur. Eine Freundin nimmt sie mit in ihre Kirche in Halle/Westfalen. Da läuft der Gottesdienst am Abend, mit Band und Theater; und am Eingang werden Gummibärchen verteilt. "Alle waren willkommen, egal, wie viel oder wenig sie glaubten." Und oft kann Andrea Zeugin sein, wie Glaube wächst. Viele der jungen Leute entscheiden sich für den Pfarrdienst, auch Andrea wechselt an die Theologische Fakultät. 

Auch hier fühlt sie sich noch nicht so recht angekommen, es entsteht Platz für Zweifel und die Flucht nach vorn. Der Weg schlängelt sich in die Ferne, nach Belfast. Im Quaker Cottage arbeitet Andrea Kuhla ein Jahr lang im Cross-Community-Project mit. Aufregende Zeiten, das Karfreitagsabkommen war noch neu, der Hubschrauber kreist im 24/7-Takt über evangelischen und katholischen Vierteln. Ein vom Glauben zerklüftetes Land - aber ohne jeden Zweifel ist die Gastfreundschaft überbordend. Da sind Menschen, die sie sehen und unter ihre Fittiche nehmen. Die sagen: "Hier hast du unseren Schlüssel, geh schon mal vor, wir haben noch zu tun, wir kommen nach. Unser Zuhause soll auch dein Zuhause sein." Einfach so. Eine andere Predigt braucht man nicht schreiben – das ist die gute Nachricht pur und in Gold.

Das Mitnehmen der Anderen, in den offenen Raum, einen Platz am großen Tisch freihalten, das lebt Andrea Kuhla weiter bis heute. (So haben wir uns übrigens vor ein paar Jahren kennengelernt, vor der Apostel-Paulus-Kirche. Sie hatte einen Kaffee für mich und Raum zum Dasein.)   

Ein improvisierter Fragebogen - ausgefüllt von Pfarrerin Andrea Kuhla.

Das Jahr in Nordirland geht zu Ende, der Sehnsuchtsort bleibt. Mit dem roten Kirchen-Bulli von Andreas bester Freundin abgeholt, geht es weiter in Berlin. Der Plan steht: Gemeindepädagogik an der Evangelischen Fachhochschule, Dreier-WG im Friedrichshain und ein Mädels-Hauskreis. Ihre Abmachung: In unserer WG ist immer Platz, wenn jemand einen braucht. Das hat die Mädelsrunde öfter mal aufgemischt und bunt gemacht. Andrea Kuhla ist angekommen und macht zum ersten Mal die wohltuende Erfahrung, dass Selbstzweifel schwinden und Vertrauen wächst. "Ich bin richtig gut, wenn mir etwas Spaß macht."

Ein neues Gemeinde-Zuhause findet sich über Freunde und Andrea begegnet ihrer großen Liebe. Zusammen mit ihrem Mann geht sie einige Jahre später noch einmal nach Belfast. Für "Jugend mit Mission" baut sie ein zweites Café im katholischen Viertel auf und trifft Menschen von damals wieder, kann erleben, was aus den Familien geworden ist. Oft hat sie dieselben Leute bei sich sitzen, auf eine Tasse Tee und ein Ulster Fry. "Frittenfett und Seelsorge" – das ist Andreas tägliche Mischung. Und diesen köstlichen und nervigen Frittenduft bekommt man schwer abgewaschen. 

Als es Zeit ist, zurück nach Berlin zu gehen, bekommt Andrea Kuhla ihre Vikariatsstelle in der Marienkirche am Alexanderplatz zugeteilt. Nein, es war kein Irrtum, sie fragt extra noch einmal nach. In dieser Kirche wurde "nicht so getan als ob" – hier erschallten die Bachkantaten höchstprofessionell von der Empore, die Alben saßen tadellos, die Liturgie war geheimnisvoll und dicht. Bevor sie ihren ersten Gottesdienst antritt, geht Andrea abends mit ihrem Mentor allein in die Kirche, spürt nach, "und da war ein Herz, es war hier nicht kalt". Das war ein wichtiger Moment, "eine Art Lehrstück". Und so hat sie es bei zukünftigen Stellen beibehalten.

Heftiger Schicksalsschlag

Sie bekommt den Schlüssel zu ihrer Kirche. Im wortwörtlichen wie auch im übertragenen Sinn. "Es ist egal, was du heute falsch machst. Die Leute dürfen merken, dass du Freude an dem hast, was du machst." Damit wird Andrea Kuhla in ihre neue Aufgabe gesandt. Und Freude, davon hat sie jede Menge. 

Inzwischen ist ihr erster Sohn geboren und immer mit dabei. Die Citykirche im Windschatten des Fernsehturms ist ein Strandungsort für viele. Ein fester Kern mit offenen Armen und ehrlicher Fürbitte schenkt festen Halt für die, die woanders blöde Erfahrungen gesammelt haben. 

Dann schlägt das Leben zu, so brutal wie es kann: mit dem Tod. Andreas zweiter Sohn stirbt plötzlich, noch im Bauch, eine Woche vor Entbindungstermin. Sie und ihr Mann nennen ihn Felix und müssen ihn aus den Armen geben. 

Bisher hat sie gern bestattet, denn Menschen, die einen Verstorbenen betrauern, sind so viel echter und lassen sich näher berühren. "Im Angesicht des Todes kann man so wenig verstecken." 

Nun war das eigene Kind tot geboren, mussten so viele Entscheidungen schnell getroffen werden, veränderte sich alles. Nie hat Andrea schlimmer gezweifelt – und gleichzeitig nie stärker vertraut. Alte Gewissheiten sind eingekracht, die Fragen jetzt existenziell: "Was, wenn das nicht stimmt? Wenn da kein Himmel ist und ich mein Kind nicht wiedersehen kann?"

Es geht ihr wie Hiob, mit dem die Freunde sieben Tage sitzen und schweigen. Andrea spürt Gottes Gegenwart, er sitzt mit ihr und trauert, daran gibt es keinen Zweifel. Und dennoch schweigen die Fragen nicht: Was ist der Grund? Was ist Leben, wie ist die Ewigkeit?

Und hier kommen wir an: Zweifel und Glauben spielen nicht gegeneinander. Sie sind fest miteinander verwoben. "Erst fühlt es sich so an, als ob die Welt eine ganz Andere ist. Aber nein – die Welt war schon immer so." Sie ist die, die anders ist. Es ist wie ein Shift in ihrem Glauben. Seit Felix Tod ist Andrea Kuhla viel mehr Zuhause im Brüchigen. Es bleiben tiefe Risse im Boden ihres Alltags. Aber sie trägt auch dieses Bild: "Ein Boden, der aufgerissen ist, wird weiter."

Und bleibt bespielbar, wie ein Teppich. PlayingArts wird über die Zeit Andreas Lieblingsspielfeld in ihrem Beruf. Kreativ, zweckfrei und spielerisch können Menschen dabei ihrem Glauben aufspüren und manchen Zweifel ausräumen. Segen, der sich sichtbar macht, weil er gebrochen wurde und geteilt – und dabei mehr wird und auch so viel heilt.