Alfred Schalkau irrte alleine durch Osteuropa

altes Familienbild
© epd-bild/Matthias Pankau/Alfred Schalkau privat
Alfred Schalkau (Mitte) mit seiner Mutter Henriette und seinem älteren Bruder Helmut Anfang der 1940er Jahre auf dem einzigen Schwarz-Weiß-Foto, das ihm von seiner Familie geblieben ist. Er wurde kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs von seiner Familie getrennt.
Das Schicksal der "Wolfskinder"
Alfred Schalkau irrte alleine durch Osteuropa
Keine Eltern, kein Zuhause, keine Identität: Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Alfred Schalkau als Neunjähriger von seiner Familie getrennt. Er war eines von bis zu 25.000 "Wolfskindern", die allein durch das zerstörte Osteuropa irrten.

Alfred Schalkaus Kindheit endete jäh. Er war gerade neun Jahre alt, als er 1945 plötzlich auf sich allein gestellt war. Im Januar hatte die sowjetische Rote Armee das ostpreußische Königsberg (heute Kaliningrad) größtenteils eingeschlossen. Im April kapitulierte die Stadt. Alfreds Vater Ernst und sein älterer Bruder Helmut waren an der Front. Den Kontakt zu seiner Mutter Henriette, die mit Typhus in einem Lazarett lag, hatte er in den Wirren der letzten Kriegsmonate verloren.

Das Haus der Familie war ebenso wie weite Teile der Stadt komplett zerstört. Und der Vergeltungswille der Roten Armee entlud sich teils in grausamen Gewaltorgien. Hinzu kam der Hunger. "Wir haben Kartoffelschalen gegessen, Reste aus dem Müll, oft tagelang gar nichts", erinnert sich der heute 87-Jährige. Als er hörte, dass es in Litauen besser sein soll, machte er sich - wie unzählige andere verwaiste Kinder auch - auf den Weg dorthin.

Alfred Schalkau war eines von bis zu 25.000 "Wolfskindern". So werden jene Kinder genannt, die nach der Eroberung Ostpreußens durch die Rote Armee 1945 ihre Eltern durch Mord und Verschleppung verloren hatten. Sie kamen entweder in sowjetische Kinderheime oder schlugen sich allein von Ostpreußen nach Litauen durch, wo sie vielfach von fremden Familien als Arbeitskraft aufgenommen wurden.

Jeder Tag ein Überlebenskampf

Als der neunjährige Alfred sich im Frühjahr 1945 unter dem Waggon eines Zuges Richtung Litauen versteckte, war ihm nicht klar, dass sein bisheriges Leben damit vorbei war und er seine Familie nicht wiedersehen würde. "Es ging Tag für Tag neu darum zu überleben", sagt er: "Und trotzdem hatte ich tief drinnen ja die Hoffnung, dass alles wieder gut wird irgendwann."

"Vokietukai", die kleinen Deutschen, nannten die Litauer die eltern- und heimatlosen Kinder. "Faschistenkinder" aufzunehmen oder zu versorgen, hatten die Sowjets streng verboten - doch das Mitleid mit den Unglücklichen war oft stärker. "In einigen Häusern wurde täglich ein Eimer Suppe für die Vorbeikommenden gekocht", sagt Ruth Leiserowitz aus Berlin, Vorsitzende des "Wolfskinder-Geschichtsvereins", der sich um die Aufarbeitung dieses Kapitels deutscher Geschichte bemüht, "auf anderen Höfen ließ der Bauer den Hund von der Kette".

Mehr Mitleid für kleinere Kinder 

Leiserowitz hat zahlreiche ehemalige Wolfskinder ausfindig gemacht und sie zu ihren Erlebnissen befragt. "Fest steht: Bei kleinen Kindern siegte das Mitleid rasch, für die Älteren war die Suche nach einem Dach über dem Kopf deutlich schwieriger." Wer nirgendwo unterkam, lebte oft wochenlang in den Wäldern, musste stehlen oder ernährte sich von Pflanzen und toten Tieren.

Alfred Schalkau verdingte sich als Tagelöhner bei litauischen Bauern. Er kümmerte sich um das Vieh und die Felder. Dafür bekam er Essen und einen Schlafplatz. Trotzdem verbrachte er viele Nächte im Freien - aus Furcht vor Razzien. Zur Schule durfte er nicht: "Aus Sicht der Sowjets hatten deutsche Kinder kein Recht auf Bildung." Sein Deutsch ist schlecht. "Das passiert, wenn man seine Muttersprache Jahrzehnte nicht sprechen darf", sagt er entschuldigend. Um auch sonst nicht als Deutscher aufzufallen, wurde aus Alfred Ernst Schalkau schließlich Alfred Ernstowitsch Schalkauskas - mit einem neuen Pass. So konnte er eine landwirtschaftliche Ausbildung machen, zur Marine gehen und anschließend als Lkw-Fahrer arbeiten.

Totaler Verlust der eigenen Identität

So wie er verloren unzählige deutsche Kinder in den Nachkriegswirren nicht nur ihre Eltern und ihr Zuhause, sondern ihre komplette Identität. "In vielen Fällen vernichteten die Gastfamilien aus Angst vor den Russen alles, was an die deutsche Herkunft der aufgenommenen Kinder erinnerte", erklärt Ruth Leiserowitz. So gingen Adressen, Briefe und Fotos verloren. Und je jünger die Kinder waren, desto eher vergaßen sie einfach ihren Namen, ihre Herkunft und ihre Muttersprache.

Mit diesem offiziellen Dokument versuchte sein Vater Alfred Schalkau 1965 zu sich nach Deutschland zu holen; vergeblich.

Alfred Schalkau sollte erst Jahrzehnte später erfahren, dass sein Vater Ernst den Krieg überlebt und über das Deutsche Rote Kreuz vergeblich versucht hatte, ihn zu sich nach Kiel zu holen. Das Einzige, was Alfred Schalkau von seiner Familie geblieben ist, ist ein Schwarz-Weiß-Foto, das ihn zusammen mit seiner Mutter Henriette und seinem älteren Bruder Helmut zeigt. Es hat einen Ehrenplatz in der Schrankwand der kleinen Zweizimmerwohnung in Pfalzgrafenweiler (bei Freudenstadt).

 

Hier im Nordschwarzwald leben Alfred und seine weißrussische Frau Tatjana, mit der er seit 57 Jahren verheiratet ist, seit 1998. Sie fühlen sich wohl. Und sie sind dankbar für das neue Zuhause. Aber Heimat, sagt Alfred Schalkau, das wird für immer Königsberg bleiben - "der Dom, das Haus, der Garten". Manchmal träumt er nachts davon. Bis heute.