TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Nur Gespenster"

Fernseher vor gelbem Hintergrund
© Getty Images/iStockphoto/vicnt
17. Dezember, ARD, 20.15 Uhr:
TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Nur Gespenster"
"Nur Gespenster" heißt dieser Krimi, aber für das "nur" hätten die Betroffenen vermutlich wenig Verständnis; Begegnungen mit Gespenstern sind in der Regel wenig ersprießlich und in diesem Fall sogar tödlich.

Der besondere Reiz von Astrid Ströhers erstem Drehbuch für den "Polizeiruf" aus Rostock resultiert jedoch gerade für die Fans von Katrin König darau, dass sich der Titel auch auf die LKA-Kommissarin bezieht. 

Die persönliche Ebene spielte in den Filmen mit Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner ohnehin stets eine spezielle Rolle. Keine andere Krimireihe im deutschen Fernsehen lässt sich derart konsequent als Fortsetzungs-Saga betrachten, weil die beiden Hauptfiguren von Beginn an mehr als bloß ein Team waren: Anfangs sollte König den Kollegen im Auge behalten, weil Bukow angeblich auf der Lohnliste der Mafia stand, später verliebten sich die beiden ineinander; in seiner Loyalität vertuschte der Kollege gar eine Straftat. Sein familiärer Hintergrund spielte ebenfalls stets eine wichtige Rolle. 

Daran hat sich selbst nach Hübners Abschied nichts geändert: Bukows Nachfolgerin Melly Böwe (Lina Beckmann) ist seine Halbschwester; im weitesten Sinn gehört also auch er zu den titelgebenden Gespenstern. Königs nach vierzig Jahren aus der Versenkung auftauchender Dämon ist jedoch ein anderer. Ein Alptraum illustriert sehr berührend die Gefühle der Kommissarin: Eine idyllische Strandszene wechselt von einem Moment auf den anderen das Vorzeichen, als ein kleines Mädchen plötzlich mutterseelenallein zurückbleibt.

Mit dem eigentlichen Fall hat das zwar nur am Rande zu tun, aber die Ebenen sind so geschickt miteinander verknüpft, dass die persönlichen Momente nicht wie Fremdkörper wirken. Selbst die Animositäten im Revier, in anderen Sonntagskrimis oft bloß ein nerviger Nebenschauplatz, sind plausibel integriert. 

Die zentrale Handlung erinnert von Ferne an "Für Janina" (2018), einen der besten Rostock-Krimis, als Bukow und König einen dreißig Jahre alten Mordfall wieder aufrollten. Auch in "Nur Gespenster" geht es um lange Zeit zurückliegende Verbrechen. Was sich damals ereignet hat, wird zwar nur beschrieben, doch selbst damit nähert sich das Drehbuch der Grenze des Zumutbaren. Das gilt auch für den Todesfall, mit dem die Geschichte beginnt: Was auf den ersten Blick wie ein aus dem Ruder gelaufenes Sado/Maso-Spiel wirkt, entpuppt sich als Foltermord. Andreas Herzog, Regisseur unter anderem des preisgekrönten ARD-Vierteilers "Die Toten von Marnow" (2021), hat zwar darauf verzichtet, die Spuren der Misshandlungen zu zeigen, aber die Schilderungen sind womöglich noch schlimmer. Der gleichermaßen faszinierende wie verstörende Auftakt, der zwischendurch eine leblos im Wasser treibende junge Frau zeigt, hat somit exakt jene Signalwirkung, die sich Ströher erhofft: "Das wird ein Film, der weh tut." 

Während das Duo König/Böwe das Leben des Toten durchleuchtet, erhält eine Frau einen Anruf aus dem Jenseits: Vor 15 Jahren ist die Teenager-Tochter von Evelyn Sonntag (Judith Engel) spurlos verschwunden. Die Mutter hat die Hoffnung nie aufgegeben, dass Vanessa irgendwann zurückkehrt, aber entsprechende Hinweise entpuppten sich stets als Schimären und hatten bloß erneute Verzweiflung zur Folge, weshalb Ehemann Robert (Holger Daemgen) die Tochter irgendwann für tot erklären ließ. Zunächst scheinen der Foltermord und das Schicksal von Familie Sonntag nichts miteinander zu tun haben; bis die Kriminaltechnik rausfindet, dass Vanessa, mittlerweile Ende zwanzig, offenbar am Tatort war.

Die beiden Ermittlerinnen sind zwar die zentralen Figuren des Films, doch Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist die Mutter. Judith Engel verkörpert diese psychisch labile und physisch fragile Frau, die ihre enorme Schuld erfolgreich verdrängt hat, geradezu unangenehm gut, weshalb sich ausgezeichnet nachvollziehen lässt, dass Katrin König kotzen könnte, als sich Evelyn Sonntag wieder mal als Opfer inszeniert.

Sehr wirkungsvoll ist auch der optische Kontrast: Herzog und Kameramann Marcus Kanter haben diesen Szenen ein helle, freundliche Anmutung gegeben, obwohl die Kommissarinnen längst ahnen, welch’ finsteren Abgründe sich hinter der harmlosen Fassade verbergen; Ströhers Drehbuch lässt die Redensart "Das Leben ist kein Ponyhof" auf denkbar grausige Weise Wirklichkeit werden. Der Titel bezieht sich auf eine Aussage von Vanessas traumatisiertem jüngeren Brüder, auch er leidet unter den seelischen Verwüstungen seiner Kindheit: Als er sich einst der Mutter anvertraute, beschied sie ihm, er habe nur Gespenster gesehen.