TV-Tipp: "Tatort: Was ihr nicht seht"

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5. November, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Was ihr nicht seht"
Einen klassischeren Thriller-Auftakt gibt es kaum: Eine junge Frau wacht neben einer Leiche auf und kann sich an nichts erinnern. Zwei persönliche Bezüge sorgen dafür, dass der sechzehnte "Tatort" aus Dresden noch fesselnder ist als andere Geschichten dieser Art.

Der Tote im Bett von Sarah Monet (Deniz Orta) ist David, ihr aktueller Freund, und sie wiederum eine gute Freundin von Leonie Winkler (Cornelia Gröschel); sie war bis zu dessen Tod mit dem Bruder der Kommissarin liiert. Vor diesem Hintergrund entwickelt das Drehbuch (Peter Dommaschk, Ralf Leuther sowie Regisseurin Lena Stahl) eine Handlung, die unversehens eine völlige neue Richtung einschlägt. Zunächst gilt es jedoch, Sarahs Unschuld zu beweisen, denn Winkler geht natürlich davon aus, dass ihre Beinahe-Schwägerin unmöglich die Täterin sein kann, selbst wenn alles auf eine Beziehungstat deutet: David hatte eine Affäre, die eifersüchtige Sarah hat der Frau eine heftige Verletzung im Gesicht zugefügt; auf die ärztliche Untersuchung reagiert sie ebenfalls mit einer schockierenden Aggressivität.

Natürlich bleibt dem Leiter der Mordkommission, Schnabel (Martin Brambach), nichts anderes übrig, als seine Mitarbeiterin von dem Fall abzuziehen, was Winkler selbstredend nicht davon abhält, auf eigene Faust zu ermitteln. Prompt wird der Fall zur Belastungsprobe für das Verhältnis zur Kollegin Gorniak (Katrin Hanczewski): einerseits, weil sie ihre Partnerin nicht über den Stand der Ermittlungen informieren darf; andererseits, weil Winkler ihr nicht erzählt, dass sie an Sarahs Arbeitsplatz Drogen gefunden hat. Als sich bei den kriminaltechnischen Untersuchungen Hinweise auf eine mögliche Unschuld ergeben, darf Sarah die Untersuchungshaft verlassen, allerdings mir Fußfessel.

In ihrer Wohnung möchte sie verständlicherweise erst mal nicht mehr übernachten, weshalb Winkler sie im Ferienhaus ihrer Eltern unterbringt. Als Sarah am nächsten Morgen ohne Fußfessel verschwunden ist, platzt Schnabel endgültig der Kragen: Jetzt hat sich Winkler auch noch der Fluchthilfe schuldig gemacht. 

"Was ihr nicht seht" würde auch ohne die diversen Befindlichkeiten funktionieren, aber sie ergänzen den Krimi um eine reizvolle Ebene. Das gilt vor allem für die Beziehung zwischen Winkler und ihrem Chef: Sie ist die Tochter eines Freundes und früheren Kollegen, die beiden kennen sich ewig, aber wenn Schnabel den Vorgesetzten rauskehren muss, wechselt er übergangslos vom Du zum Sie ("Sie sind raus!"). Die Stimmung im unterbesetzten Revier ist ohnehin gereizt, zumal ein ehrgeiziger junger Staatsanwalt (Timur Isik) auf Ergebnisse drängt. Als Winkler ihn bittet, bei Sarah Gnade walten zu lassen, weil sie unmöglich eine Mörderin sein kann, lässt er die junge Kommissarin sehr kühl abblitzen. 

Der Knüller des Drehbuchs ist jedoch eine weitere Ebene, die Lena Stahl zunächst nur andeutet, indem sie zwischen die anderen Handlungsstränge immer wieder mal kurze Aufnahmen einer sinistren Figur einstreut, die ganz eindeutig nichts Gutes im Schilde führt. Die Erkenntnis dämmert schließlich auch Gorniak. Zunächst ist es bloß eine Ahnung: "Irgendwas übersehen wir die ganze Zeit." Tatsächlich gibt es einen Fall hinter dem Fall, der ohne die Ermordung Davids womöglich noch lange Zeit nicht ans Licht gekommen wäre.

Geschickt spekuliert das Drehbuch auf eine Furcht, die vor allem Zuschauerinnen gut nachvollziehen können. Eine Zeugin beschreibt diese tiefe Verunsicherung, wenn man überzeugt ist, dass sich ein Fremder in den eigenen vier Wänden zu schaffen gemacht hat, dies aber nicht beweisen kann, weil es bloß ein Gefühl ist. Diese Phantomwahrnehmung manifestiert sich in der Gestalt eines Mannes, den Gorniak zunächst nur als Schatten auf der Aufnahme einer Überwachungskamera feststellt. Die kriminaltechnischen Details machen ohnehin einen weiteren Reiz des Films aus: Die Untersuchung von Sarahs Blut ergibt, dass K.o.-Tropfen im Spiel waren. 

Sehenswert ist "Was ihr nicht seht" auch wegen der sorgfältigen Bildgestaltung. Die Musik treibt den Puls an den richtigen Stellen in die Höhe; das ausführliche Finale ist ohnehin enorm spannend. Damit ist die Geschichte jedoch noch nicht ausgestanden: Der Film endet mit einer bestürzenden Schlusspointe. Stahl hat sich bislang vor allem als Autorin hervorgetan, von ihr stammt unter anderem die Vorlage zu der amüsanten Justizkomödie "Hangover in Highheels" (Sat.1, 2015), am Drehbuch zu Karoline Herfurths Kinofilm "Wunderschön" (2022) war sie ebenfalls beteiligt; der "Tatort" aus Dresden ist ihr erster Sonntagskrimi.