TV-Tipp: "Nackt über Berlin"

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12.Oktober, 20.15 Uhr, Arte
TV-Tipp: "Nackt über Berlin"
Unser TV-Kritiker Tilmann P. Gangloff empfiehlt die sechsteilige Serie. Es geht um einen entführten Schulleiter, und die Aufklärung liegt auf der Hand oder doch nicht? Die fantasievollen Wendungen lassen beim Zuschauer keine Sekunde der Langeweile aufkommen.

Zwei Jugendliche entführen ihren Rektor: Das klingt nach einem Drei-Personen-Stück, sicherlich mit großem Drama-Potenzial, zumal gleich die erste Szene das offenbar leblose Opfer mit geöffneten Pulsadern in der Wanne zeigt; aber reicht der Stoff für eine Serie? Umso überraschender ist die Entwicklung von "Nackt über Berlin", denn die vermeintlich überschaubare Handlung offenbart ungeahnte Abgründe: Was wie ein Schülerstreich beginnt, wandelt sich zu einer bemerkenswert komplexen Geschichte, die sogar Krimi-Elemente enthält. Die scheinbar spontane Tat entpuppt sich als perfider Plan, der den Rektor zu einem Geständnis zwingen soll: Jens Lamprecht hat erhebliche Schuld auf sich geladen. Die sechs Folgen haben aber noch viel mehr zu bieten, denn der Rektor ist nur die zweite Hauptfigur.

Regisseur Axel Ranisch, der seinen eigenen Roman gemeinsam mit seinem bewährten Koautor Sönke Andresen adaptiert hat – für die ARD-Satire "Familie Lotzmann auf den Barrikaden" sind beide 2019 mit dem Grimme-Preis geehrt worden – erzählt eine zweifache "Coming"-Geschichte: Jannik (Lorenzo Germeno) ist ziemlich korpulent und deshalb ein Außenseiter an seiner Berliner Schule. Außerdem ist er schwul, aber das weiß er zu Beginn noch nicht. Das Drehbuch kombiniert also ein "Coming of Age" über die schwierige Adoleszenz eines jungen Mannes mit seinem "Coming out". Partner "in crime" und fast auch Geliebter ist Tai (Anh Khoa Tran); der Mitschüler wird wegen seiner vietnamesischen Wurzeln ebenfalls gemobbt. Als Tai eines Abends dem völlig betrunkenen Rektor begegnet, beschließt er, den Mann in dessen eigener Wohnung einzusperren. Lamprecht lebt in einem "Smart House", weshalb der computeraffine Tai fortan Gott spielen und zum Beispiel Wasser und Strom nach Belieben ein- und ausschalten kann. Die digitale Verbindung zur Außenwelt ist ohnehin rasch gekappt, aber via Bluetooth ist "Gott" in der leerstehenden Nachbarwohnung dank Lamprechts Laptop-Kamera stets auf dem Laufenden.

Den Rest der Welt scheint dessen Verschwinden nicht weiter zu kümmern: Seine Frau ist auf und davon, Stellvertreterin Claudia Gieseking (Christina Große) übernimmt nahtlos seinen Posten, und die weiteren Lehrkräfte sind offenbar ebenfalls ganz froh, ihn los zu sein.

Eine Weile weidet sich die Handlung an dieser "Herr und Sklave"-Konstellation, doch dann nimmt die Serie genau im richtigen Moment eine ungleich größere Dimension an: Tai ist überzeugt, dass der Rektor für den Suizid von Mitschülerin Melanie verantwortlich ist, für die der Junge aus der Ferne geschwärmt hat. In Rückblenden erzählt Ranisch nun die Vorgeschichte dieses tragischen Ereignisses, in das auch Gieseking verwickelt war. Zwischendurch gibt es kurze Ausflüge in Janniks Familie: Vater Michael (Devid Striesow), ein Sporttrainer, hält den Jungen für einen Spätzünder und will ihn zu einer Testosteron-Therapie überreden; Mutter Simone (Alwara Höfels) liebt ihren Sohn so, wie er ist, und denkt sich ihren Teil.

Ranisch, vieldutzendfach ausgezeichnet, ist ein "Filmsohn" von Rosa von Praunheim, was sich in "Nackt über Berlin" vor allem an den fantasievollen Exkursen zeigt. Wann immer Jannik, eine Art jugendliches Alter Ego des Regisseurs, in eine Traumwelt abdriftet, verwandelt sich die Inszenierung in ein Bühnenstück, in dem er allerlei nicht immer jugendfreie Abenteuer erlebt. Diese Momente, in denen er verarbeitet, was ihm tagsüber widerfahren ist, sind regelmäßig verblüffend und bereichern die Serie um ein sehr ungewöhnliches Element.

Lorenzo Germeno, bekannt geworden als Titeldarsteller des Jugendfilms "Winnetous Sohn" (2015), verkörpert die Metamorphose vom kindlichen Außenseiter zum selbstbewussten jungen Mann famos. Thorsten Merten, selten besungen, ist ohnehin immer sehenswert, zumal Rektor Lamprecht eine läuternde Wandlung durchmacht.

Originell ist auch die Idee, den zynischen Schulleiter mit dem Laptop in der Hand durch die Rückblenden wandern zu lassen, während er gegenüber "Gott" seine Beichte ablegt. Am anderen Ende der Verbindung wähnt er nacheinander seinen Sohn, die Kollegin Gieseking oder den von Heiko Pinkowski verkörperten Vater Melanies; der Schauspieler ist seit vielen Jahren Mitglied von Ranischs Filmfamilie.

Eine weitere Hauptrolle ist rein akustischer Natur: Klassikliebhaber Jannik, zudem ein begabter Pianist, weiß für jede Lebenslage das passende Tschaikowski-Stück, weshalb Martina Eisenreichs Filmmusik auch eine Hommage an den großen russischen Komponisten ist. Arte (heute ab 20.15 Uhr) und die ARD (morgen ab 22.20 Uhr) zeigen alle Folgen am Stück, die Serie steht bereits komplett in der Mediathek. 

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